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Archiv-Artikel

Die Immigrantin

ROMAN Mit seiner Figur Lena beschreibt Roumen M. Evert beispielhaft das Leben illegaler Einwanderer

VON BARBARA OERTEL

Immigration hat viele Gesichter. Besonders das Antlitz der „Illegalen“ ist von Angst gezeichnet – Angst vor einer Abschiebung aus der hochgerüsteten „Festung Europa“, die mit ihrer brutalen Abschottungspolitik auch Tote billigend in Kauf nimmt.

In ständiger Furcht vor ihrer Entdeckung lebt auch Lena, die Hauptheldin und Ich-Erzählerin in dem Roman „Die Immigrantin“ von Roumen M. Evert. Mitte der 90er-Jahre verlässt Lena, auf der Suche nach einem besseren Leben für sich und ihre beiden zwangsweise zu Hause zurückgelassenen Kinder, ihr Heimatland Bulgarien. Die junge Frau landet in Wien, wo sie in einem Gasthaus als Kellnerin arbeitet.

Einen Tag lang, genauer gesagt 24 Stunden, lässt der Autor den Leser an dem kraftraubenden Alltagskampf von Lena teilhaben. Dabei gelingen Evert verblüffend authentische Einblicke in die seelische Befindlichkeit seiner Protagonistin. Diese wird sowohl über Lenas Auseinandersetzung mit ihrer eigenen prekären Situation als auch über die Konfrontation mit der Lebenswelt weiterer Personen transportiert: ihren Landsleuten, Immigranten aus anderen Ländern sowie einheimischen Besuchern der Gaststätte – allesamt aus der Bahn geworfenen Existenzen und gebrochenen Biografien, so wie Lena.

Innerer Ausnahmezustand

„Ich wehre mich nicht, ich flehe sie nicht auf Knien an, ganz klein und ruhig lass ich mich in den Käfig schieben, der uns an die ungarische Grenze rollt, ich weiß, ich bin verloren und meine Kinder sind verloren. Der Schrei, der aus meiner Brust will, kann nicht heraus, wieder bin ich kalt geworden wie der Frost auf den Feldern, still wie die Nacht“, sagt Lena, als sie aus einem Albtraum erwacht, in eine Polizeikontrolle geraten zu sein.

Bereits diese Äußerungen, mit denen der Roman beginnt, lassen den permanenten inneren Ausnahmezustand derjenigen erahnen, die illegal in einem anderen Land leben und deshalb „Gejagte“ sind. Und so wird Lena, völlig unabhängig von ihrer Herkunft, gleichsam zu einem Pars pro Toto für unzählige Immigrantenschicksale.

Lenas Dasein in Wien wird verwoben mit der Beschreibung einiger Stationen ihres früheren Lebens in Bulgarien. Da sind ihre noch unbeschwerte Kindheit in den 60er-Jahren in einer Bergarbeitersiedlung in den Rhodopen; ihr Aufbegehren als Jugendliche gegen die provinzielle Enge ihres Herkunftsortes sowie die Gängelung und Bevormundung durch das autoritäre System; eine desaströse Ehe mit einem gewalttätigen Mann, aus der sie sich, allen familiären Widerständen und Konventionen zum Trotz, befreit; ihre verzweifelten Versuche, sich als allein erziehende Mutter zweier Kinder in einer Stadt durchzuschlagen; der Sturz des kommunistischen Regimes im Jahre 1989, der im Land chaotische wirtschaftliche und politische Verhältnisse zur Folge hat. Und schließlich der Entschluss, die Heimat zu verlassen.

Literarisch weißer Fleck

Bei der Erzählung von Lenas Leben in Bulgarien geht der Autor chronologisch vor – eine Technik, die zwar eher unoriginell ist, sich in diesem Kontext jedoch anbietet. Dabei überrascht Ewert, der selbst einige Jahre in Bulgarien gelebt hat, erneut: durch seine realistische und glaubwürdige Darstellung, die nicht nur die jüngere geschichtliche Entwicklung gut lesbar nachzeichnet, sondern auch die Nischen des menschlichen Zusammenlebens detailliert und kenntnisreich ausleuchtet. Jener Nischen, die das Leben auch angesichts eines immensen politischen Drucks lebenswert und lebbar machten.

Zweifellos ist es dem Autor gelungen, den Immigranten in Gestalt von Lena eine markante Stimme und ein Gesicht zu geben. Dass seine Heldin aus Bulgarien stammt, scheint demgegenüber zwar zweitrangig, ist aber nicht minder bedeutsam. Denn auch zweieinhalb Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Union ist das Balkanland, das viele vor allem mit Korruption, organisierter Kriminalität und Armut assoziieren, historisch, kulturell und politisch leider weiterhin eine Terra incognita.

Auch literarisch war dieser Teil Europas bislang ein weißer Fleck. Dieses beginnt sich zu ändern. Für diesen Prozess steht „Die Immigrantin“ genauso wie die bulgarischen Schriftsteller Vladimir Zarev („Verfall“ und „Familienbrand“) und Georgi Gospodinov („Natürlicher Roman“), die ins Deutsche übersetzt sind.

Um dem Teufelskreis aus ständiger Angst, Unsicherheit und drückender Existenznot zu entkommen, spielt Lena mit dem Gedanken an eine Zweckehe mit einem Österreicher. Doch dann entscheidet sie sich anders. So steht am Ende anstatt einer weiteren erzwungenen Abhängigkeit ein Akt der Selbstbefreiung. Und das ist nichts weniger als eine Chance für einen Neuanfang.

■ Roumen M. Evert: „Die Immigrantin“. Dittrich-Verlag, Berlin 2009. 295 Seiten, 19,80 €