: „Im Libanon entsteht eine neue Identität“
Am Sonntag wird im Libanon gewählt. Erstmals seit dem Bürgerkrieg entsteht dort ein eigenes Nationalbewusstsein, sagt der Verhaltensforscher Samir Khalaf aus Beirut. Die Menschen überwinden kulturelle und religiöse Schranken
taz: Am kommenden Sonntag beginnen die Parlamentswahlen im Libanon – die ersten seit dem Abzug der Syrer Ende April. Beides hat die junge Oppositionsbewegung erzwungen. Erleben wir die Geburt oder die Wiedergeburt der libanesischen Nation?
Samir Khalaf: Es ist die Geburt einer neuen libanesischen Identität. Zum ersten Mal seit 40 Jahren spüre ich diese Art von Enthusiasmus. Der wurde ausgelöst durch den Mord am ehemaligen sunnitischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri im Februar. Der gewaltsame Tod dieses charismatischen Mannes wirkt seitdem als Katalysator, der die bislang scharf getrennten Identitäten der ethnischen und religiösen Gruppen miteinander zu verschmelzen beginnt.
Vor 15 Jahren ist der libanesische Bürgerkrieg zu Ende gegangen. Hatten die Religionsgemeinschaften und Nationalitäten nicht genug Zeit zur Annäherung?
Der Libanon kommt jetzt erst aus der Nachkriegszeit heraus. Unsere Umfragen der vergangenen Jahre haben ergeben, dass die Leute zwar weniger oft in die Kirche oder Moschee gehen, trotzdem aber einem stärkeren politischen Konfessionalismus anhängen. Die meisten Menschen hier begreifen sich immer noch als Maroniten, Drusen, Christen oder Schiiten. Im besten Falle fühlen sie sich indifferent gegenüber ihren Mitmenschen.
Wird diese Zersplitterung in offiziell 18 Religionen des Libanon nun aufgehoben?
Die Bindungskraft der gruppenspezifischen Loyalitäten könnte zumindest nachlassen. Zum ersten Mal seit dem Bürgerkrieg haben die unterschiedlichen Gruppen wegen des Mordes an Hariri zusammen demonstriert. An der größten Demonstration nahm fast eine Million Menschen teil, ein Viertel der Bevölkerung des Libanon. Es war eine gemeinsame Feier, die etwas von Karneval hatte. Die Leute erfanden Slogans, Graffiti, Kunst. Zum ersten Mal gab es ein derartiges Event, der die Leute in der öffentlichen Sphäre zusammenbrachte.
Geht es den Menschen um Freiheit von der Besatzung oder auch um Reformen im Inneren?
Sehen Sie, auch da spielt die Person Hariri wieder eine Rolle. Er kam nicht aus einer einflussreichen Familie, er hatte keine politische Partei hinter sich. Er ist ein Selfmade-Man. Seine Legende ist, dass er aus eigener Kraft in Saudi-Arabien Multimillionär geworden ist. Er war während des Bürgerkrieges nicht im Libanon. An seinen Händen klebte kein Blut. Für ihn demonstrieren nun vor allem junge Leute, die selbst nicht in den Krieg verwickelt waren, die keine eigene Gewalterfahrung haben und deshalb auch die Zersplitterung in verfeindete Lager nicht verstehen wollen.
Wie muss sich die Gesellschaft des Libanon ändern?
Hariri stand für eine kosmopolitische Gesellschaft. Er pflegte vielfältige Verbindungen ins Ausland, zu den USA, Frankreich, arabischen Staaten, nach China. Er wollte den Libanon öffnen. Das hat die Oppositionsbewegung verstanden, daran will sie anknüpfen.
Die heutige libanesische Gesellschaft basiert vor allem auf ethnischen, religiösen und familiären Bindungen. Will die demonstrierende Jugend die alten Bindungen kappen?
Hariri ist ein Symbol dafür, dass der einzelne Mensch etwas erreichen kann – im Ausland, ohne die Unterstützung der Familie, der ethnischen Gruppe, der Religion. Er hat damit gezeigt, dass er ein Individuum ist, dass das Individuum etwas bewirken kann.
Wo findet sich dieser neue Individualismus im Alltag wieder?
Der Libanon ist ein im arabischen Vergleich liberales Land. Trotzdem dürfen beispielsweise viele muslimische Frauen nicht ohne die Erlaubnis ihres Ehemannes oder Vaters ins Ausland reisen. Dagegen beginnen die Frauen allmählich aufzubegehren. Neu ist auch der Anteil der Frauen an der kulturellen Elite unseres Landes. Viel mehr Frauen als Männer haben Galerien, sind Künstlerinnen. Ihre Ansprüche sind ein wesentlicher Grund dafür, warum es mit dem politischen Konfessionalismus und seinen teilweise strengen Gesetzen so nicht weitergehen kann.
Sind die Galerien und der Kunstbetrieb auch Zeichen für das Entstehen einer öffentlichen Sphäre, die eine gemeinsame Identität ermöglicht?
Es gibt Beispiele dafür, dass sich die öffentliche Sphäre ausdehnt. So existieren einzelne Gruppen, die sich für die Natur und gegen die Zersiedelung der Landschaft engagieren. Eine Art Umweltbewegung wie in Westeuropa und den USA könnte entstehen. Manche christliche Gemeinde stellt ihre Kirche bereits für Konzerte und Lesungen zur Verfügung – ein Zeichen dafür, dass sich die exklusiven Bindungen an die Religion lockern, die den jeweils anderen Glauben ausschließen. Bei den Muslimen ist das noch nicht der Fall. Dort ist die Moschee der heilige Ort, der nicht entweiht werden darf.
INTERVIEW: HANNES KOCH