: Vom Recht auf Tanz
Ein Gespräch mit der Berliner Tänzerin und Choreographin Livia Patrizi über das Nischendasein des zeitgenössischen Tanzes und die Notwendigkeit von Tanzpädagogik
taz: Warum sollte man sich für Tanz interessieren?
Livia Patrizi: Ich denke nicht, dass man sich für Tanz interessieren muss. Man hat Vorlieben, genauso wie bei anderen Sachen auch. Aber die Menschen sollten die Wahl haben – wenn sie etwas darüber wissen und einen Zugang finden. Genauso wie sie ein Recht haben, Mathematik zu lernen. Und dann können sie später entscheiden: Es interessiert mich oder nicht.
Noch führt Tanz als Kunstform ein Nischendasein.
Livia Patrizi: Ich denke ein Grund ist, dass es keine Texte gibt und dass die Sprache, die über den Körper geht, ähnlich wie ein Gedicht ist. Sie muss sich erst einmal erschließen. Außerdem glaube ich, dass Tanz manchen Menschen Angst macht, weil der Körper, wenn er zum Ausdruck kommt, direkter und schonungsloser ist als das Wort.
Was können die Choreographen tun, um diese Distanz zum Tanz, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen haben, zu überbrücken?
Man muss diese Schwierigkeiten des Publikums auch ernst nehmen. Oft tun die Künstler nichts, um den Ruf als elitäre Kunstform zu vermindern. Das heißt nicht, dass man Stücke extra für das Publikum machen muss, aber vielleicht ist mehr Vermittlungsarbeit gefragt.
Wie soll die aussehen?
In Holland muss jede professionelle Tanzgruppe, die öffentliche Förderung bekommen will, auch tanzpädagogische Arbeit leisten.
Wie kann man lernen, Tanz zu verstehen?
Der beste Weg ist mitzumachen. Es ist schwierig, ihn theoretisch zu erklären. Am Wichtigsten ist es, zu verstehen, dass Tanz eine Sprache ist und dass ganz normale Gefühle, Alltagssituationen oder Geschichten Thema von Tanz sein können.
Ist die Skepsis gegenüber zeitgenössischer Kunst nicht spartenübergreifend?
Ja, aber bei der bildenden Kunst gibt es eine Kunsterziehung, die schon in den Schulen anfängt und auch die Kinder, die nicht Maler werden wollen, kennen den Unterschied zwischen einem abstrakten und einem figurativen Bild. Dagegen gibt es überhaupt keine Tanzerziehung. Als ich die erste Tanz-AG in einer Schule geleitet habe, habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Kinder schon mit sieben, acht Jahren ganz feste Vorstellungen vom Tanzen haben. Sie denken, dass Tanz wie im Fernsehen ist oder wie Ballett. Aber sie haben keine Ahnung, dass Tanz eine Sprache ist, dass er alle Gefühle ausdrücken kann.
In finanziell schwierigen Zeiten stoßen Forderungen nach mehr Kunstförderung selten auf ein positives Echo.
Ich denke, dass es gerade jetzt, wo es in Deutschland ein bisschen kriselt, ein guter Moment ist, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Kunst ist ja auch ein Gewissen der Gesellschaft.
Kritiker sagen, dass man Kunst mit dem Versuch, ihr eine sozialpädagogische Funktion zu geben und sie danach zu beurteilen, Unrecht tut.
Ich kenne diese Kritiken und sie sind zum Teil berechtigt. Die Kunst an sich muss und soll nicht pädagogisiert werden. Trotzdem kann in der Vermittlung viel mehr gemacht werden. Es müssen schon die Künstler sein, die auf diese Lücke aufmerksam machen. Ich habe jetzt ein Projekt in Berlin initiiert, das im August startet, um Tanz in die Schulen zu bringen und es ist mir sehr daran gelegen, dass es Künstler sind. Kinder und junge Menschen sind die ersten, die nicht belehrt werden wollen. Sie wollen Leidenschaft spüren und ein Mensch, der ein ganzes Leben lang so einen Beruf ausübt, muss das leidenschaftlich betreiben.
Interview: Friederike Gräff