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Archiv-Artikel

Brandstifter als Feuerwehr

Wenn das Stuttgarter Schauspielhaus eine Wanderbühne wäre, wäre alles nicht so schlimm. Aber das ist es nicht. Die Sanierung zieht sich und endet jetzt im Zelt. Für Thomas Rothschild ist das so skandalös wie der Kahlschlag beim SWR. Über die Verarmung der Kulturlandschaft durch Unfähigkeit und Verrat

von Thomas Rothschild

Das Stuttgarter Schauspielhaus ist ein Kind des keimenden Wirtschaftswunders. Es ersetzte Max Littmanns im Krieg zerstörtes Kleines Haus neben dessen größerem Opernhaus. Es hat fünfzig Jahre auf dem Buckel und bedurfte einer Sanierung, im Zuschauerraum ebenso wie auf der Bühne, deren Technik mittlerweile veraltet war. Das gehört zum kommunalen Alltag.

Für die Sanierung war ein gutes Jahr eingeplant. Sie sollte zu Beginn der Spielzeit 2011/2012 abgeschlossen sein. Das Theater zog in das Provisorium in der Türlenstraße, das sich besser bewährt hat als erwartet und das viele Besucher in ihr Herz geschlossen haben wie zuvor das Depot im Stuttgarter Osten. So weit, so gut und so unspektakulär wie ein Zahnarztbesuch oder ein Haarschnitt.

Als der Termin der vorgesehenen Rückkehr ins Stammhaus näher rückte, erfuhren die Theaterleute, dass ihr Quartier erst ein halbes Jahr später beziehbar sein würde. Nicht so gut, aber irgendwie noch verwindbar. Nach außen zeigte man ein freundliches Gesicht, obwohl die Einschränkungen künstlerischer und nicht zuletzt finanzieller Natur, die man hinnehmen musste, beträchtlich waren. Das Publikum bekam davon nichts mit. Allein dafür verdienen Hasko Weber und seine Mitarbeiter Respekt.

Die Tragödie als Farce nahm kein Ende

Kurz vor der avisierten Neueröffnung – die Spielpläne waren ausgedruckt, die ersten Karten verkauft, die Proben angelaufen –, stellten sich gravierende Mängel heraus, die eher nach einer Satire als nach einer ernsthaften Beurteilung verlangen. Die Sanierung eines Schauspielhauses ist ja keine Pioniertat, keine Reise auf einen unentdeckten Kontinent. Es ist bekannt, dass sich die Akustik eines Konzertsaals nicht genau berechnen lässt, bevor er gebaut und mit Publikum gefüllt ist. Aber wenn eine dafür ausgewählte Baufirma nicht abschätzen kann, dass die Verschalung von Scheinwerfern den Blick auf die Bühne behindert, dass Sitzreihen zu eng stehen, dass eine Drehbühne rumpelt und steckenbleibt, dann ist das nicht mehr komisch, sondern ein Straftatbestand.

Die Tragödie als Farce hatte damit kein Ende. Jetzt hat sich erwiesen, dass auch die erneuten Nachbesserungen nicht in der veranschlagten Zeit erledigt werden können. Die nächste Spielzeit wird in einem Zelt stattfinden statt im Schauspielhaus, das somit bereits drei Mal so lang für den vollen Betrieb gesperrt sein wird als ursprünglich angekündigt.

Wie die tüchtige Pressesprecherin des Schauspiels, Ingrid Trobitz, am 22. März mitteilte, sind im täglichen Betrieb weitere umfangreiche Probleme mit dem neuen Kommunikations- und Steuerungssystem festgestellt worden. Dadurch verliert das Schauspiel Stuttgart die Planungssicherheit für die Spielzeit 2012/13. In dieser Situation baten der Schauspielintendant Hasko Weber und der geschäftsführende Intendant Marc-Oliver Hendriks den Vorsitzenden des Verwaltungsrats der Staatstheater Stuttgart, Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster, und den Kunststaatssekretär Jürgen Walter um ein dringendes Gespräch.

Bei diesem Gespräch, das am 26. März stattfand, erklärte Schuster: „Die Mängel sind gravierender, als sie dem Publikum erscheinen. Der Spielbetrieb ist mittelfristig gefährdet. Ziel muss sein, dass die geplanten Stücke dieser und der kommenden Saison aufgeführt werden. Zudem brauchen Ensemble und Mitarbeiter Planungssicherheit. Eine Ausweichmöglichkeit, die sich direkt an das Haus anschließt, ist die beste Option. Daher habe ich das Schauspiel gebeten, diese Idee umgehend auszuarbeiten und zu konkretisieren, sodass der Verwaltungsrat am 16. April darüber beraten und entscheiden kann.“ Die Kulturbürgermeisterin Susanne Eisenmann ergänzte: „Dass nach der Sanierung erneut saniert werden muss, ist für Besucher wie für das Ensemble ärgerlich. Wir dürfen diesmal nicht das Risiko eingehen, dass Zeitdruck oder unpassende Vorgaben weitere Verzögerungen oder gar Ausfälle zum Ergebnis haben. Das schulden wir Stuttgarts Ruf als Theaterstadt.“ Bei diesem Spitzengespräch wurde „einhellig festgestellt“, die bestehenden und abzustellenden Mängel im Schauspielhaus seien so komplex, dass eine verlässliche Aussage über die Eröffnung des Hauses in der nächsten Spielzeit nicht zu treffen sei.

Diese beschönigende Rhetorik klingt vertraut. Fast wortwörtlich ebenso klingt es bei den Woche für Woche auftretenden Verzögerungen im Zusammenhang mit Stuttgart 21. Und als man bei der neuen Stadtbibliothek einen dritten Fahrstuhl einsparte, nur um im Nachhinein festzustellen, dass er doch benötigt wird, und ihn dann zum doppelten Preis hinzuzufügen, kamen ebenfalls jene ungeschoren davon, die eine verlässliche Aussage zu treffen nicht fähig oder nicht willens sind.

Die Beteuerungen über die Schwierigkeit von Voranschlägen bei komplexen Vorhaben wären glaubwürdiger, wenn nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit die vorgegebenen Fristen ebenso häufig, die Kosten ebenso häufig und in gleicher Höhe unterschritten wie überschritten würden. Wer sich immer nur zu seinen Gunsten verrechnet, setzt sich dem Verdacht des bewussten Schwindels aus. Und wenn es tatsächlich zutrifft, dass verlässliche Aussagen nicht zu treffen waren: Warum hat man dann überhaupt Ankündigungen gemacht? Wohlmeinende Verteidiger des Status quo trösten: Das sei immer so bei größeren Bauvorhaben. Das mag stimmen, aber es macht die Sache nicht besser. Die Sanierung eines Schauspielhauses, der Umbau eines Bahnhofs, der Bau einer Bibliothek sind ja nicht eine Angelegenheit von Versuch und Irrtum. Wenn ein Chirurg so arbeitete wie die hier in die Pflicht genommenen oder vielmehr: nicht genommenen Baumfirmen, ginge kein Kranker mehr ins Spital. Probieren Sie mal, was passiert, wenn Sie dem Finanzamt mitteilen, dass Sie Ihre Steuern – mit denen im Übrigen auch die Sanierung des Schauspielhauses finanziert wird – nicht bezahlen können, weil Sie sich verrechnet haben. Kaum anzunehmen, dass Sie damit so unbeschadet davonkommen wie die Baufirmen, die sich „verrechnet“ haben.

Man kann nur die Geduld von Hasko Weber und auch von Reid Anderson, dessen Ballett auf die Spielstätte Schauspielhaus angewiesen ist, bewundern. Andere hätten den Krempel längst hingeschmissen und der Verwaltung gesagt: „Macht euch eure Kultur alleene.“

Anderswo benötigt man gar nicht erst die Pfuscher von Stadt und Land. Da erledigt man die Kulturzerstörung in Eigenregie. Der Südwestrundfunk will seine beiden Orchester fusionieren, und der als SWR-Intendant dilettierende Jurist Peter Boudgoust spielt den willigen Vollstrecker dieser Barbarei. Das Vorbild lieferte Hermann Fünfgeld, wie Boudgoust bezeichnenderweise ein Verwaltungsmensch, kein Journalist. Als Nachfolger des verdienstvollen Intendanten Hans Bausch, der, obgleich CDU-Mitglied, in einer heute utopisch anmutenden Weise Rückgrat gegenüber den Begehrlichkeiten der Politik bewiesen hatte, übernahm Fünfgeld die Aufgabe, die ihm anvertraute Institution, den Süddeutschen Rundfunk, zu vernichten. Der schönfärberische Begriff, mit dem dieser Coup inszeniert wurde, lautete schon damals „Fusion“. Für eine Fusion wird man bezahlt. Für die Veruntreuung, die sie in Wahrheit ist, müsste man ins Gefängnis kommen. Es ist immer wieder das gleiche Modell: der Brandstifter als Feuerwehrmann.

Begonnen hat alles, als man die zweiten Programme von SDR und SWF „zusammenlegte“. Das war der Anfang vom Ende, und das konnte man wissen. Wer es aussprach, galt als Kulturpessimist und Katastrophenprophet. Und die Redaktionskollegen der anderen Programme haben geschwiegen, in der Hoffnung, es würde sie nicht erwischen. Die Rechnung ist nicht aufgegangen. Sie schwiegen, als Jürgen Lodemanns vorbildliche Literatursendung eingestellt wurde, sie schwiegen, als Ebbo Demants anspruchsvolle Dokumentarfilmkonzeption dem Quotendruck nachgeben sollte. Und jetzt scheinen viele zu meinen, ein Orchester weniger sei kein Beinbruch.

Ein Orchester weniger im Sendebereich des SWR bedeutet: weniger Eigenproduktionen, also verstärkte Auslieferung des Rundfunks an die Schallplattenindustrie; halb so viele Konzerte im Stuttgarter und im Freiburger Raum; halb so viele Möglichkeiten für Nachwuchsmusiker, in einem international angesehenen, erstklassigen Orchester mitzuwirken; und schließlich, oft unterschätzt, weil nicht quantifizierbar: eine Verödung der Musiklandschaft. Wo das Umfeld fehlt, stirbt mit der Zeit der Nachwuchs aus. Nicht anders als die Juchtenkäfer, denen man die Bäume weghackt. Ist uns die Musik wirklich weniger wert als der Käfer? Wo bleibt der Protest gegen die Kulturvernichter? Wo bleiben die Anwälte, die Anklage erheben gegen die Gewalttäter, die liquidieren, was ihnen zur Pflege anvertraut wurde?

Thomas Rothschild, geboren in Glasgow und aufgewachsen in Wien, ist promovierter Literaturwissenschaftler, Autor und Journalist. Der streitbare Geist war Hochschullehrer der Uni Stuttgart und Mitglied des Kulturausschusses der Stadt Stuttgart. Seit 2011 ist Rothschild Präsidiumsmitglied des deutschen Schriftstellerverbands P.E.N.