Fühlen und verkosten

Eine Pflegerin demenzkranker Menschen erzählt

VON GABRIELE GOETTLE

Hildegard Eichhorn, Altenpflegerin i. d. häuslichen Krankenpflege (Diakonie-Sozialstation Südstern). Arbeit i. Pflegeteam f. e. Kreuzberger Demenz-WG. 1950 Einschulung Volksschule Viersen bei Mönchengladbach, 1955 Übergang z. Mädchengymnasium i. Viersen, 1963 Abitur. Studium f. d. Lehramt a. Gymnasien a. der Uni Freiburg, u. a. d. Ludwig-Maximilians-Universität München. Fächer: Latein u. katholische Theologie. 1971 erstes Staatsexamen i. München, 1974 zweites Staatsexamen i. Berlin. 1974–1983 Gymnasiallehrerin a. d. Liebfrauen-Oberschule i. Berlin. 1985–1988 Katechetin i. Berlin/Zehlendorf (Grundschule). Ab 1988 vollkommene berufliche Neuorientierung, intensive 2-jährige Ausbildung zur Altenpflegerin. Ab 1990 Arbeit i. d. Altenpflege b. d. Diakonie-Sozialstation Südstern. Interessenschwerpunkt: Pflege v. Schlaganfall-Patienten u. Demenz-Kranken, mehrfach gerontopsychiatrische Fortbildung. Ende d. 90er-Jahre zus. m. Kollegin Entwurf d. Konzeptes Wohngemeinschaft f. Demenzkranke, 1999 Mitbegründerin u. Aufbau d. „Demenz-WG Wrangelstraße“. Hildegard Eichhorn wurde 1944 i. Mönchengladbach als Tochter eines Finanzbeamten u. e. gelernten Krankenschwester geboren, sie ist geschieden u. hat eine Tochter.

In einer Gesellschaft, in der das Alter keinerlei Ansehen genießt, in der man im mentalen und körperlichen Sinne nicht alt werden oder gar sein darf, darf man natürlich schon gar nicht bei lebendigem Leibe den Geist aufgeben. In unvordenklichen Zeiten, als die Großeltern noch zum Haushalt gehörten, bedeutete senil nichts anderes als greisenhaft. Das schloss Zahnverlust, schlechte Augen und geistigen Verfall ganz selbstverständlich mit ein. Im heutigen Sprachgebrauch ist Senilität eine Krankheit, eine Diagnose für Altersschwachsinn bei Alzheimer und Demenz. Der beleidigende Beiklang verweist auf die Ungehörigkeit dessen, der senil ist.

Als eine der häufigsten chronischen Alterskrankheiten (in Mitteleuropa) gilt die Demenz. In Deutschland leben nach Schätzungen derzeit 1,3 bis 1,5 Millionen Demenzkranke, zwei Drittel davon sind Frauen, davon wiederum sind zwei Drittel 80 Jahre und älter. Die statistischen Berechnungen weissagen eine wachsende Flut von Neuerkrankungen (jährlich 200.000 Neuerkrankungen, davon 125.000 vom Alzheimertyp). Demente müssen versorgt und betreut werden. Ihre Pflege, und das macht sie zu einem Schrecken, ist kostenintensiv. Ein professionell betreuter Demenzkranker kostet jährlich leicht 50.000 Euro oder mehr, was ihn zusammen mit den übrigen moribunden Alten zu einem attraktiven Geschäftsgegenstand werden lässt. Auf den einschlägigen Fachmessen rund ums Altenpflegegeschäft hat sich seit der Einführung der Pflegeversicherung viel Jubel abgezeichnet.

Das „Marktsegment Altenpflege“ wird als „Boombranche mit rentablen Zuwächsen“ gefeiert, 37 Milliarden Euro werden in der Branche 2005 erwartet, 44 Milliarden für 2010, 2020 sollen es 66,5 und 2050 gar 200 Milliarden sein, wird prognostiziert. Nur ist zu befürchten, dass in Ermangelung des Geldes nicht nur die Branche auf der Strecke bleibt, sondern vor allem die pflegebedürftigen Alten, wodurch dann allerdings – und hier wechseln wir vom Jargon der Unternehmerseite zu dem der Versicherungsrechtler – endlich ein „sozialverträgliches Frühableben“ zum Zuge käme.

Angesichts dessen kann froh sein, wer schon heute dement ist, und zum Beispiel in einer der ambulant betreuten Wohngemeinschaften unterkommen konnte, die es in Berlin seit dem Ende der 90er-Jahre gibt. Sie sind eine menschenwürdige Alternative zur Verwahrlosungswahrscheinlichkeit in den Pflegeheimen, die in ihren Werbeprospekten zwar viel von „Begleitung“ reden, was dann vielfach zur Dekubitus-Begleitung wird in der Realität, so will ich es mal nennen. Die Berliner WGs haben eine Selbstverpflichtung zur Qualitätskontrolle unterschrieben (Initiator i. d. Verein f. Selbstbestimmtes Wohnen im Alter e.V., SWA, der auch Richtlinien für die architektonischen, pflegerischen und personellen Grundvoraussetzungen solcher WGs erarbeitet hat und zusammen mit der Alzheimer-Gesellschaft die Dinge im Auge behält). Da es sich bei den WGs formaljuristisch nicht um Heime handelt, unterliegen sie auch nicht der staatlichen Heimaufsicht. Die WG ist ein sensibles Pflänzchen, dessen Gedeih und Verderb abhängt von der menschlichen Qualität des Pflegeteams und vom wirtschaftlichen Gebaren der Pflegedienste.

Hildegard bittet uns Platz zu nehmen und sagt in höflichem Tonfall, ohne diesen undistanzierten Unterton und dieses Du und Wir, das in der Pflege an der Tagesordnung ist: „Ich darf Sie eben alle mal kurz vorstellen. Also, es wohnen sechs Damen hier zusammen, sechs Kreuzbergerinnen. Zwei unserer Bewohnerinnen sind noch in ihrem Zimmer bzw. im Bett, jeder hat seine individuellen Aufsteh- und Frühstückszeiten bei uns. Hier zur Linken, das ist Frau Irmgard – sie möchte Irmchen genannt werden. Sie ist jetzt auch schon fünf Jahre hier, seit Bestehen unserer WG. Sie hat früher bei der BfA gearbeitet und vermisst diese Arbeit überhaupt nicht.“ Irmchen lächelt mild, richtet ihren zarten Körper auf und presst ein Päckchen Tempotaschentücher an die Brust. Sie trägt Hosen und goldene, weiche Hausschuhe.

„Irmchen hat früher gesteppt, das war und ist ihre Leidenschaft … Sie haben, glaube ich, doch vor fünf Wochen hier noch gesteppt, Irmchen, zum Radetzkymarsch?“ Irmchen schnellt von ihrem Sessel hoch, umklammert ihre Taschentücher, summt und beginnt ihre Füße in den goldenen Schuhen im typischen Stepptanzschritt mühelos zu bewegen, wirkt konzentriert und immer lockerer. Dann bricht sie ab, bedauert die schlechten Schuhe und setzt sich in ihren Sessel. „Und das mit 83!“, sagt Hildegard. „Und hier in der Mitte, darf ich Frau Schneidermeisterin Kroll vorstellen. „Das war einmal!“, sagt Frau Kroll mit fester Stimme und verbindlichem Tonfall. Sie trägt ein geblümtes Kleid, ist sportlich hager, ihre Haut wirkt leicht sonnengebräunt. Meine Frage, was sie geschneidert hat, muss ich laut wiederholen, sie hört sehr schlecht. „Kostüme, Anzüge. Aber nur mein Mann, er war der Schneidermeister. Ich war Frau Schneidermeister, und ich habe den Haushalt gemacht.“

„Aber Sie selbst, Frau Kroll, hatten doch auch einen Beruf“, assistiert Hildegard. „Was für einen?“, fragt Frau Kroll interessiert. „Sie waren doch Kindergärtnerin.“ – „Jaja“, ruft Frau Kroll angenehm überrascht. „Früher war das – im Riesengebirge bin ich zu Hause. Schneekoppe. Da haben wir ein Haus gehabt. Da komme ich her. Riesengebirge, deutsches Gebirge, meine liebe Heimat du!“, zitiert sie. „Frau Kroll ist mit 95 Jahren unsere älteste Bewohnerin“, fügt Hildegard hinzu und wendet sich zur Frau an unserer Rechten. Sie hat dunkles, ungefärbtes Haar und saß die ganze Zeit über mit gesenkten Augen und vorgebeugt zu ihren Knien auf dem Sofa. „Frau Bolzmann, ich möchte Sie auch kurz vorstellen oder, besser, Sie erzählen einfach selbst ein bisschen von sich, was sie früher so gemacht haben?“

Frau Bolzmann blickt uns prüfend an, schiebt die Unterlippe ein wenig vor und sagt ruhig: „Was soll ich sagen, was habe ich gemacht früher? Na ich war in der Papierbranche. Habe Kuverts geklebt an der Maschine, Briefkuverts. Das war Akkordarbeit. Während der Kriegszeit war ich dienstverpflichtet in Oberschöneweide, auch in einer Fabrik. Nun sitze ich hier, und mein Mann ist schon etliche Jahre tot – der hat ja nur gesoffen, gesoffen, gesoffen!“ Sie sagt, sie hat immer Angst. Auf unsere Frage, wie sich die Angst anfühlt und wo sie sitzt, zeigt sie auf ihre linke Brust: „Die sitzt da, unterhalb vom Herzen … und manchmal hab ich davon solches Bauchweh!“

„Frau Bolzmann hat eine Tochter und einen Enkel“, fügt Hildegard hinzu, „sie ist eine der wenigen im Moment, die Angehörige hier haben.“ Auf meine Frage nach ihrem Alter möchte sie, dass ich es schätze. 75 bis 80, schätze ich. „Ne, 85 bin ich!“, sagt sie zufrieden, und der Schimmer eines Lächelns überfliegt ihr ernstes Gesicht. Die Vögel nutzen die Pause und zwitschern heftig. „Der eine ist uns ja an Silvester zugeflogen, einfach so, deshalb heißt der Silvester, den anderen haben wir dazugeholt, der heißt Roland.“ Zwei aus dem Team schauen kurz herein, begrüßen uns freundlich, tauschen mit Hildegard ein paar Informationen aus und gehen wieder. Frau Kroll lacht sehr, weil eine Betreuerin beinahe über meine am Boden stehende Tasche gefallen wäre. „Es geht nirgends gemütlicher zu wie hier“, sagt Frau Kroll, „ja, das ist ein Paradies! Wenn man bedenkt, das liegt mitten in Berlin! Kein Auto, keine Fußgänger. Eine Ruhe haben wir hier! Selbst im Stadtpark dagegen ist es laut. Kommen Sie von einer Firma?!“, fragt sie unvermittelt in geschäftsmäßigem Ton. Wir sagen: „Nein, von der Zeitung.“ – „Nee, Zeitung lese ich nicht!“, sagt Frau Kroll entschieden.

Hildegard blättert in einem Fotoalbum, und Frau Kroll fügt rügend hinzu: „Manche sind bis 11, halb 12 vor dem Fernseher. Ich nicht! Das ganze Leben ist Fernsehen …“ Sie lacht sehr, während die beiden anderen Frauen unter dem Mangel an Ansprache und Zuwendung erstarren. Hier wird transparent, wie fein gewebt die Fäden der Konversation sich miteinander verschränken, wenn das Schiffchen der Rede von einer zur anderen Seite hin und her bewegt wird, und wie nichts davon entsteht, wenn sich das Interesse auf nur einen Faden richtet. Das betrifft natürlich auch Gespräche generell.

Hildegard zeigt uns Fotos. „Hier, eine Bewohnerin, die leider schon gestorben ist, sie war unsere älteste gewesen, mit 98. Und das ist ‚Sabbel‘, der Hund einer Kollegin, die immer hier war, und der hatte sich auch verabschiedet von der sterbenden Bewohnerin, sie hat ihn gestreichelt. Er ist in ihr Zimmer gegangen, hat es geahnt. Seit kurzem ist ‚Sabbel‘ auch tot“, erklärt Hildegard, und Irmchen sagt zögernd: „Ach ja?“ Hildegard legt das Album zur Seite, deutet diskret zum Küchentisch und stellt uns Frau Kurfürst vor, die immer noch, oder wieder, eine Zigarette raucht und blicklos über einer Zeitung sitzt. Sie schweigt. „Frau Kurfürst war bei der AEG früher, sie fuhr ein Auto, war sehr emanzipiert, muss man sagen. Sie musste unlängst wegen einem Sturz ins Krankenhaus, und das ist für sie sehr schlimm gewesen, besonders psychisch, wodurch sich die Demenz sehr verstärkt hat, erst jetzt, allmählich, scheint es wieder etwas besser zu werden. Um Ostern herum war ihr Sohn da, er kam aus England. Er ist ja nun auch schon über 60.

Es hat ihn sehr getroffen, dass seine Mutter ihn nicht mehr erkannt hat. Wir machen ja auch viel Biografiearbeit, um das eigenen Leben den Leuten auch immer wieder in Erinnerung rufen zu können, wir gucken oft gemeinsam alte Fotos an. Und Frau Kurfürst hat also von 100 Fotos, die sie vielleicht hat, nur noch auf die paar reagiert aus ihrer Kindheit. Und da habe ich dann ein Foto ihr gezeigt, auf dem der Sohn als Kind mit seiner Schwester zu sehen war, und sagte zu ihr: ‚Na jetzt schaun Sie sich das mal an, hier sitzt der Mann, ihr Sohn, wie hat der sich verändert!‘ Und sie hat ihn einen kurzen Moment angeschaut, zum ersten Mal, und sagte ihm ganz freundlich: ‚Nun sagen Sie mal, sind Sie wirklich derselbe wie auf dem Bild da?‘ Nachdem er schon so traurig war, hat es ihn wenigstens ein bisschen gefreut, dass sie es immerhin in Erwägung gezogen hat, dass er ihr Sohn ist.“

Wir verlassen die Küche mit einem Abschiedsgruß, verabschieden uns auch von den drei Bewohnerinnen nebenan. Irmchen, so errät Hildegard an der düsteren Miene, möchte sich gerne auf ihr Zimmer begeben, Musik hören und etwas Schokolade essen. Frau Bolzmann verabschiedet sich formvollendet, und Frau Kroll erzählt, dass sie jeden Morgen betet. Auf die Frage nach dem Gebet sagt sie es brav auf wie ein Kind: „Wie fröhlich bin ich aufgewacht, wie hab ich geschlafen so sanft die Nacht. Hab Dank im Himmel, du Vater mein, dass du hast wollen bei mir sein. Beschütze mich auch diesen Tag, damit mir kein Leides geschehen mag. Amen. Die haben mich immer ausgelacht, meine drei Schwestern, weil ich gebetet habe, auch meine drei Brüder, die in Stalingrad geblieben sind, haben gelacht über mich. Die sind alle tot, aber ich lebe noch!“ Sie ruft uns zum Abschied mit Geschäftsstimme nach: „Und kommen Sie bald mal wieder.“ Hildegard legt den Arm um das unsicher sich hinaus bewegende Irmchen, gleich geht es leichter.

Im Flur hilft der Haltegriff mit. An der offenen Tür eines geräumigen, mit privatem Mobiliar wohnlich ausgestatteten Zimmers sitzt eine korpulente Frau in ihrem Sessel. Eines ihrer Beine ist gewickelt. „Hallo, Frau Hirschfeld, darf ich Ihnen diese beiden Damen von der Zeitung vorstellen, sie werden was schreiben über die Wohngemeinschaft hier.“ – „Na ja, das macht doch nichts“, sagt Frau Hirschfeld in beruhigendem Tonfall. „Wollen Sie nach vorne kommen oder wollen Sie hier sitzen bleiben, so ganz ohne Gesellschaft?“, fragt Hildegard, während sie Irmchen, die auf der Toilette ist, zurückerwartet. „Ich habe nie Gesellschaft“, sagt Frau Hirschfeld entschieden, „ich will meine Ruhe haben. Ich hab mein Leben lang genug Gesellschaft gehabt, ich hatte Kinder! Aber irgendwann gehen die ja dann weg. Mein Sohn ist Koch …“ Wir verabschieden uns. Irmchen wird in ihr Zimmer geführt.

Dann verlassen wir mit Hildegard die WG, um zu ihr nach Hause zu fahren zum Gespräch. Sie erklärt, dass es keinerlei Büro oder Aufenthaltsraum fürs Personal gibt in dieser Wohnung, denn Mieter sind die sechs Frauen, und auch das Pflegeteam ist sozusagen nur zu Besuch. Wir fragen nach den Kosten für die Bewohner. „Also, 200 Euro Mietanteil – der an den Vermieter geht – dazu 210 Euro Wirtschaftsgeld für Essen usw. Die Pflegekosten betragen dann noch mal 3.200 Euro, und davon gehen dann die 921 Euro ab, die die Pflegekasse bei ambulanter Pflege für die Pflegestufe 2 gewährt. Für die meisten bezahlt das Sozialamt die Differenz, denn so viel Geld hat ja kaum einer.“

Hildegard Eichhorn wohnt im Ostteil der Stadt, im Bezirk Prenzlauer Berg, in einer kleinen Dreizimmerwohnung im sanierten Altbau. Wir dürfen wählen und entscheiden uns für die Küche. An den Wänden hängen Kinderzeichnungen, am Küchenschrank Familienfotos. Draußen, im kleinen mit Efeu bewachsenen Hinterhof, fliegen weiße Blüten durch die Luft. „Ich war ja früher ganz normal in der häuslichen Krankenpflege, das war damals wirklich noch ganzheitlich, also nah am Körper, und natürlich gab es die emotionale Zuwendung, das Zuhören, Lachen, Streicheln und auch Trösten bis hin zur so genannten Finalpflege, zur Sterbebegleitung. Das ist alles weggefallen, jetzt geht es nur noch nach Zeit und Zeiteinheiten. Emotionale Zuwendung ist nicht mehr vorgesehen, auch eine ‚Finalpflege‘ ist weggefallen, aus Kostengründen. Jetzt müssen sie zum Sterben ins Krankenhaus. Schrecklich!

Ich bin so glücklich, dass wir diese WG gegründet haben, denn wir kümmern uns 24 Stunden um unsere Bewohner. Und da sind alle Formen der menschlichen Zuwendung möglich, bei dieser Art der Organisation der Pflege, weil eben das Geld zusammengeschmissen wird und alles an einem Ort stattfinden kann. Bei uns dürfen die Bewohner auch sterben, in ihrem eigenen Zimmer, wir schicken sie nicht weg, wenn die Pflege umfangreicher und intensiver wird, also keine Verlegung aus Kostengründen ins Krankenhaus! Und es ist ja so: Wer in eine WG geht und gut betreut wird, der stirbt nicht so schnell. Der ist ein ewiger Kunde! Das muss man wirklich sehen. Und der muss auch nicht wegen jedem Pups ins Krankenhaus, weil wir ja rund um die Uhr da sind.

Ganz wichtig ist natürlich fürs Gelingen – und das kann man gar nicht genug herausstreichen – ein gut zusammenarbeitendes, gut motiviertes Team. Und das haben wir geschafft. Wir arbeiten alle auf Augenhöhe, ganz ohne Hierarchie. Und wir sind einig im Konzept. Das ist enorm wichtig, denn eine schlecht geführte WG wäre die Hölle für die Bewohner, gerade für Demente, die sich nicht wehren können. Eine schlecht geführte WG ist schlimmer als ein schlecht geführtes Heim! In einer gut geführten WG brauchen Sie in der Regel auch keine Psychopharmaka, da werden Unmut, Aggression, Stress – alles eben, was bei Demenzkranken auftritt – gar nicht erst groß hochkommen. Wir achten sehr aufmerksam auf die ganz kleinen, leisen Schwingungen, und wir gehen gleich darauf ein, besänftigend, ablenkend.

Die Verwirrung ist ja schon anstrengend genug für die Leute, da ist es erleichternd, wenn von uns alles, was die Seele stört, möglichst fern gehalten wird. Wir machen ja einen ganz individuellen Pflegeplan, mit biografischer Anamnese und allem, damit wir anknüpfen können und verstehen, damit wir die Vorlieben usw. kennen, denn Demenzkranke sind ja nicht geprägt durch immer weiter fortschreitende Abstumpfung und Verblödung bis hin zum Verlöschen jeder Persönlichkeit, das ist ein vollkommen überholtes Klischee. Demenz ist ein Prozess mit individueller Entwicklung und wird in einem ganz gravierenden Ausmaß von sozialpsychologischen Faktoren beeinflusst, davon, wie der Demente teilnehmen kann an Kommunikation, an der Beschäftigung mit alltäglichen Dingen. Sie können sich ja nicht selbst beschäftigen.

Demente lesen nicht, sie haben vergessen, was ein Text ist, ein Buchstabe, ein Buch. Die Gefühlsebene hat sozusagen die Aufgaben des Kopfes übernommen, und da sind die Empfindungen sehr reich und differenziert, nur ausdrücken können sie sie eben selten. Deshalb ist es so besonders wichtig, dass die Pflegenden, neben der Erfahrung und dem technischen Können in der Altenpflege, eine Fähigkeit zur Empathie mitbringen! Man muss sich ja hineinfühlen können und unter dem wirren, unstrukturierten und unvorhersehbaren Verhalten den Kern entdecken, die Wünsche, Ängste, Empfindungen.

Nehmen wir als Beispiel Irmchen. Sie braucht das Gefühl, mindestens vier Tempotaschentücher zu haben, am besten in jeder Tasche nochmal zehn, sonst fühlt sie sich nicht sicher und ist verzweifelt. Das hat eine ganze Weile gedauert, bis wir das rausgekriegt hatten. Dabei ist sie jemand, der nur die Nase hochzieht, das ist regelrecht ein Tick. Sie hat diagnostizierten Alzheimer, was ganz selten ist, also dass einer alle Ausschlussdiagnosen hat. Sie ist auf eine merkwürdige Weise blind – das hat kein Augenarzt rausgekriegt, an den Augen liegt es nicht – sie kann das Bild anscheinend im Gehirn gar nicht verarbeiten. Sie erkennt und sieht das Essen auf dem Teller nicht, ich glaube, auch unsere Gesichter sieht sie nicht. Das ist nur eine Form ihrer Orientierungslosigkeit. Aber wie sie aufblüht, wenn man bei ihr den roten Faden findet, das haben Sie ja gesehen. Und sie liebt Witze, sie liebt Deftiges, obgleich sie andererseits sehr schamhaft ist.

Sie liebt alles, was Wortspiel ist, und natürlich Musik, Gesang und das Lyrische. Das glauben Sie nicht, wie sie es regelrecht verkostet, wenn man zu ihr sagt: ‚Ach wenn’s doch erst GELINDER und der Frühling wieder wär …‘ Es sind diese ganz individuellen Rituale, die so wichtig sind, die dieses ‚Verkosten‘ möglich machen. Das Wort ist übrigens nicht von mir, es ist von Ignatius von Loyola, der sagte nämlich: ‚Nicht das viele Wissen bringt die Seele zum Frieden, sondern das innere Fühlen und Verkosten der Dinge.‘ Und das andere ist eben dieses starke Sicherheitsgefühl, das sich an scheinbar unwichtige Kleinigkeiten, wie Tempotaschentücher knüpft. Bei Frau Kurfürst, unserer Raucherin, da ist es die Handtasche. Die braucht sie. Sie könnte da irgendwo in der Unterhose sitzen, aber die Handtasche, die braucht sie. Beim Waschen wird sie sofort unruhig, und man muss sie ihr zwischendurch mal zeigen. Sie sagt nicht, was sie will, wir müssen es wissen. Nach dem Frühstück die Zigarette und die Zeitung und das Sitzen auf ihrem festen Platz, das ist alles immens wichtig. Oder Frau Bolzmann, die ja nicht dement ist, sondern Angstpatientin, für sie ist ganz wichtig, dass sie jeden Dienstag im Rollstuhl in die Markthalle gebracht wird, und dort trinkt sie einen Kaffee und gibt dem jungen Mann, der sie fährt, einen Kaffee aus. Das liebt sie sehr, diesen Termin hat sie immer im Kopf, darauf freut sie sich.

Oder Frau Kroll, Frau Schneidermeisterin Kroll, die jeden Tag Kartoffeln schält. Sie schält nicht einfach nur Kartoffeln. Nein, da muss die Zeitung liegen, das Messer mit dem blauen Griff, und dann schält sie so, wie sie das 70 Jahre lang gemacht hat. Die Schalen schlägt sie in die Zeitung ein, faltet das so und so, ganz ordentlich, und sie bringt das dann auch selber weg. Wenn alles gut ist, dann bewegt sie sich in ihrer Küche, dann weiß sie genau, wo der Abfall ist, das Geschirr, die Töpfe. Und Frau Hirschfeld, die in ihrem Zimmer bleibt und die Gesellschaft nicht so mag, die ist eine hervorragende Köchin und Abschmeckerin, ihr Sohn ist ja auch Koch geworden. Für das alles braucht es Zeit und Langsamkeit, Geduld. Wenn der Tag eine Struktur hat, durch viele, viele Alltagsrituale, dann sehen Sie, wie die Leute aufleben, auch wenn sie nicht mehr viel selbst machen können – wir machen ja den Einkauf und den gesamten Haushalt, sozusagen nebenbei – aber sie haben irgendwie das Gefühl, beteiligt zu sein.

Sehr wichtig ist das gemeinsame Mittagessen, den großen Tisch haben wir uns extra machen lassen für die Küche, damit jeder seinen festen Platz hat. Und ich finde es auch ganz besonders wichtig, dass wir normal mitessen – im Heim läuft das ja ganz getrennt. Wir essen, und nebenbei sind wir behilflich beim Essen, soweit es notwendig ist. Und wir reden viel, denn untereinander findet ja kaum Kommunikation statt, diese Fähigkeiten sind weitgehend verloren, wenn aber ein Anstoß kommt, wenn eine Stimmung entsteht und bestimmte Worte fallen, dann geht es auf einmal los, da kann jemand wie Frau Kroll von morgens bis abends erzählen. Aber der Anstoß ist nötig, die Assistenz und das Einfühlungsvermögen. Das brauchen wir ja alle.“

Wir bitten nun um ein paar Details zur eigenen Biografie: „Ich? Also ich bin in der Nähe von Mönchengladbach geboren und in einem katholischen Haushalt aufgewachsen, in einer sehr offenen, kirchlichen Weise. Später wurde ich dann eher etwas kirchenkritisch, und auch deshalb konnte ich nicht Gymnasiallehrerin für Latein und katholische Theologie bleiben. Aber es hat mich auch das Pädagogische nicht interessiert. Ich wollte mit den Händen arbeiten, mit Menschen, und das war dann der Grund, weshalb ich diese zweite Ausbildung zur Altenpflegerin machte. Ich hatte und habe ein ausgesprochen positives Echo in mir, wenn ich an Alter denke, auch für das Körperliche, auch mit allen, auch negativen Gerüchen, sag ich mal, das ist alles positiv besetzt. Die Ursache ist meine Oma. Die Oma, das war die nicht zensierende Instanz in meinem Leben. Ich bin nicht aufgewachsen bei ihr, aber die Aufenthalte waren prägend. Nach dem Tod meines Großvaters durfte ich so zwei Monate lang bei ihr leben und im Bett des Verstorbenen bei ihr schlafen – ich hatte ihn noch da liegen sehen, als Toten. Als Kind ist man da anders. Und vielleicht bin ich das auch ein bisschen geblieben.

Jedenfalls kristallisierte sich heraus, dass mir das gefällt mit Alten. Und die Defizite des Alters, besonders auch bei Schlaganfallpatienten und Dementen, die fand ich, ehrlich gesagt, eigentlich immer verständlich. Immer! Also mein erster Blick – und da können Sie mir einen ‚Knalldementen‘ vorstellen, der nichts mehr sagen kann – der richtet sich nicht auf die Demenz. Der Blick ist mehr von emotionaler Art, da passiert ja was, wenn man einem Menschen gegenübersteht, da entsteht ein Kontakt, der wird fühlbar, und der ist auch da beim Gegenüber, ganz eindeutig. Und ich bin nicht alleine mit dieser Sicht, ich habe Kollegen, die das auch so sehen.

Wissen Sie, das ist etwas ganz anderes, auf dieser auch sehr stark emotionalen Ebene arbeiten zu können. Es war nicht diese Flickschusterei wie in der Schulpädagogik. Vielleicht ist es so, vielleicht kann ich das so sagen, wissen Sie, mir gefällt einfach, so direkt zu sehen, wo innen drin dieses Leben entsteht, also jetzt im Sinne einer seelischen Lebhaftigkeit, die die Person dann auch positiv stimmt. Das gefällt mir. Ich selber war mal – das ist aber schon lange her – in einem seelischen Zustand, der weit davon entfernt war. Ich würde sagen, ich war richtig in einer tiefen Depression drin. Und ich weiß, wie toll es ist, wenn man da wieder rausfindet, das, was ich beschrieben habe, wiederfindet. Also, es ist immer von Vorteil, wenn man in der eigenen Biografie solche Erfahrungen hat, aus denen man schöpfen kann. Und wer gut gestimmt ist, das sehe ich bei unseren so stark beeinträchtigten Bewohnern, der wird auch angeregt. Wir sehen dann viel deutlicher, da und da sind noch Quellen, die Zufriedenheit und auch Selbstbewusstsein für den Moment schaffen.

Oder, was auch gelingt, viel leichter in Fähigkeiten und Tätigkeiten umgemünzt werden können, die sonst vollkommen verschüttet wären. Und das sieht vielleicht nach nichts aus, einen Teller auf den Tisch stellen, Kartoffeln schälen, eine Zeitung falten, aber für Frau Kroll ist das lebenswichtig. Früher gingen einige der Damen ja noch mit einkaufen in die Markthalle hier, dann wurden sie aber älter und gebrechlicher und blieben lieber zu Hause. Wissen Sie, wir machen mit den Leuten kein zielgerichtetes Mobilisierungs- und Orientierungstraining mehr, wir machen mit ihnen das, was sie im Rahmen ihrer Grenzen leisten können und leisten wollen, denn das muss ja auch Berücksichtigung finden. Derzeit verlässt nur Frau Bolzmann regelmäßig das Haus. Wir führen die Damen raus an die frische Luft, sie sitzen viel draußen auf dem Balkon und im Garten.

Und jeden Tag planen wir zusammen mit den Damen das Essen, und da hat jeder natürlich seine Lieblingsgerichte, bis auf Irmchen, die sich nicht so viel aus Essen macht. Und daneben, aber das ist natürlich das Selbstverständliche für uns, da muss die ganze Pflege laufen, denn sie brauchen ja für jede Verrichtung Hilfe, bzw. sie können es gar nicht mehr. Also, das ist eine ganz körpernahe Pflege, Intimpflege, Prothesen reinigen, Anziehen, Kämmen, Nagelpflege usw. und natürlich, wenn nötig, Beine wickeln gegen Thrombose oder einen Einlauf, Medikamente verabreichen usw., was eben so alles anfällt. Das alles geht langsam, braucht viel Geduld und Überredungskunst. Bis wir dann auch noch Ordnung und Sauberkeit hergestellt haben in der Wohnung, hatten sechs Hände ganz schön zu tun und waren vollauf beschäftigt.

Nachmittags, nach dem Schlafen, nach Kaffee und Kuchen, spielen wir dann oft ‚Mensch, ärgere dich nicht‘, oder es werden Rätsel geraten, Märchen vorgelesen. Manchmal spiele ich auf der Gitarre und singe, und kaum habe ich angefangen, fallen den Damen sofort die Lieder ein. Sie können zum Teil mehrere Strophen, das ist ganz erstaunlich. Weil ja sonst das Erinnerungs- und Sprechvermögen stark reduziert oder gestört ist. Am ehesten lockert sich das im Einzelgespräch, also bei hoher Konzentration aufeinander. Und beim Singen! Das Singen löst Blockierungen auf. Ich merke das ja auch an mir selbst. Ich singe im Post-Chor – das ist ein ganz besonderer Chor –, und da wird eben auch deutlich, wie man Routine braucht, üben muss und jedes Mal wieder neu anfängt. Und dann ist da das, was die Blockaden abbaut, das ist der Moment, wenn man erlebt, wie die eigene Stimme zusammen mit den anderen Stimmen einen Klang erzeugt, den keiner allein erzeugen könnte. Und wenn der dann stimmt, dann freuen sich alle.

So ist es auch beim Demenzkranken. Beispielsweise singen wir das Lied: ‚Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliegen vorbei, wie nächtliche Schatten…‘ Da sitzt eine Frau, die überhaupt nicht mehr spricht, und wenn ich die anschaue und sage: ‚Die Gedanken sind …?‘ und mache eine Pause, dann kann es sein, dass sie sagt: ‚… sind frei‘.“