: Expedition ins Papiergebirge
ATOMMÜLL Alles wie gehabt: Einmal mehr konnte der Asse-Untersuchungsausschuss kein Licht in die Sache bringen. Die taz hat es geahnt und suchte selbst nach Akten
VON MICHAEL QUASTHOFF
„Oft beneide ich Alberten, den ich über die Ohren in Akten begraben sehe“, lässt Goethe den jungen Werther seufzen. Hätte er Klaus-Michael Nernheim gekannt, dann wäre ihm dieser Satz garantiert nicht eingefallen. Nernheim, Referatsleiter und im niedersächsischen Umweltministerium zuständig für Kabinetts- und Landtagsangelegenheiten, koordiniert die Übersendung der Akten an den Asse-Untersuchungsausschuss. Er könnte in Papier baden. Zu beneiden ist er nicht.
Nernheims Dienstherr, Hans-Heinrich Sander (FDP), verzögere die Herausgabe von Material und verschleppe die Aufklärung, klagt die Opposition. Nernheim weist leicht konsterniert auf eine Reihe Kartons, die sich, randvoll mit Akten, die Wand entlangziehen. „Jedes einzelne Blatt muss mit Seitenzahl versehen, kopiert, auf vertrauliche Personendaten durchgesehen, inhaltlich erfasst und gelistet werden“, sagt er. Da mache sich ja niemand einen Kopf, was das für eine Arbeit sei. Außer der taz. Also Herr Nernheim, wie lange braucht man im Ministerium für ein Aktenstück? Das komme auf Art und Umfang an, sagt der Beamte. Na, im Durchschnitt? Nernheim rechnet. „Allein das Paginieren, Kopieren und Listen kostet fünf Stunden.“ Und um wieviele Akten geht es? „417 Ordner mit 93.812 Seiten haben wir schon übersandt, 81.000 Asse-Seiten, die dem Umweltausschuss vorliegen, nicht eingerechnet.“ Über 100.000 Blatt plus 27 Akten mit unbekannter Seitenzahl harren der Bearbeitung. Nicht zu reden von den Beständen der Unterbehörden. Etwa den 500 bis 1.000 Akten aus dem Landesbergamt Clausthal.
Nernheim schiebt den Reporter in einen der Kopierräume. Sorgsam trennt hier ein Mitarbeiter Blätter vom Aktendeckel, der Kopierer surrt. „Im Asse-Kopier-Pool arbeiten 24 Personen, mit dem Paginieren sind 16 Leute beschäftigt, die gleiche Anzahl halten wir in Reserve.“ Falls Papierallergie ausbricht? „Außer drei Paginierstempeln ist noch niemand zu Schaden gekommen“, erwidert der Referatsleiter.
Im nächsten Zimmer sitzen zwei weitere Referatsleiter plus Referent, die dem Ausschuss kontinuierlich den Sachstand melden müssen. Er wird aus den bisher durchgesehene Akten destilliert. „Das sind dann jene Fakten, auf die sich am Ende der Untersuchung alle einigen können“, lacht Joachim Bluth, der eigentlich im Referat „Grundsatzangelegenheit Kernenergie“ tätig ist. Wagt einer der Herren eine Prognose, wann die letzte Akte raus geht? „Keine“, sagt Bluth, schließlich sei da ja auch noch die normale Arbeit und das Landtagsplenum und ...
Bleibt die einzige Frage, die Herr Nernheim nicht beantworten kann. Wer bitte soll das alles lesen? Das sei nicht alles, sagt Nernheim. „Das Bundesumweltministerium und das Bundesamt für Strahlenschutz haben Akten im dreistelligen Bereich avisiert. Das sind nochmal mehrere Hundert Meter Papier.“
Wenn es im Untersuchungsausschuss so weitergeht wie gestern, werden die Abgeordneten ihr Lektürepensum womöglich doch noch schaffen. Die diesmal fast vollzählig erschienen Zeugen hatten wenig bis nichts beizutragen. Went Brewitz war von 1982 bis 1995 bei der Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF), damals Betreiber der Asse, Experte für „Endlagersicherheit“. Was dort an toxischen Stoffen lagerte, interessierte ihn nicht. Sein Team trieb internationale Grundlagenforschung und sah zu, dass der Strom der Fördergelder aus Politik und Industrie nicht abriss. Sein Strahlenschutzbeauftragter Ingo Müller-Lyda lief mit dem Dosimeter hinterdrein und schrieb Berichte. Außerdem traten auf: zwei Ex-Präsidenten des Oberbergamtes Clausthal. Einer hatte fast alles vergessen. Der andere sah, dass in der Asse vieles schief lief. Aber mehr als mahnen konnte er nicht: „Die Sicherheit oblag dem Betreiber und das war das GSF.“