: Alle spielen Schwarzer Peter
Wie kommt man zum Misstrauensvotum? Wer spielt den Schuldigen? Der Streit darüber spaltet die Koalition
VON LUKAS WALLRAFF UND ULRIKE WINKELMANN
Absurdes Theater – so wirkt der letzte Akt der rot-grünen Regierung in Berlin. Von einem Abgang in Würde kann keine Rede sein. Obwohl sich alle Parteien längst auf Neuwahlen eingestellt haben, streiten die bisherigen Koalitionäre immer noch über den Weg dorthin. Ohne Atempause werden neue Vorschläge ins Spiel gebracht, wie man das Parlament auflösen sollte. SPD und Grüne lassen keine Gelegenheit aus, übereinander herzuziehen. Der hektische Streit hat einen tieferen Grund. Alle spüren: Geschichte wird gemacht. Alle Beteiligten sorgen sich darum, wie ihre Rolle später bewertet wird.
„Im Jahr 2005 stürzte die kleine Partei der ‚Grünen‘ den sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder.“ Diesen Satz in noch zu schreibenden Geschichtsbüchern möchten die Grünen verhindern: „Wir lassen uns nicht den schwarzen Peter zuschieben.“
„Im Jahr 2005 probte der linke Flügel der SPD den Aufstand gegen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Dem blieb nichts übrig, als Neuwahlen einzuleiten, nach denen die CDU die Regierung übernahm.“ Für solch einen Satz wiederum wollen sich die SPD-Linken auf keinen Fall haftbar machen lassen. Auch Schröder selbst will nicht als Kanzler in Erinnerung bleiben, der sich von einer Andrea Nahles oder einem Ottmar Schreiner stürzen ließ.
Dennoch braucht der Kanzler für sein Neuwahlszenario das Misstrauen des Parlaments, also mindestens vier rote oder grüne Gegenstimmen bei der Vertrauensabstimmung, damit Neuwahlen am 18. September möglich werden, bei denen er als Kanzlerkandidat antreten kann. Nur will keiner den Dolch für die dazugehörige Legende in die Hand gezwängt bekommen.
Die SPD-Parteilinke Nahles beteuert seit Tagen, die Linken seien zwar ganz schön wichtig, aber so wichtig eben auch nicht. Ein Fraktionsmitglied vom linken Flügel sagt: „Ich bin doch nicht verrückt und mache da mit. Schröder soll zurücktreten, wenn er gehen will.“
Merkwürdig. Angeblich haben Schröder und sein getreuer SPD-Chef Franz Müntefering schon lange vor der verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen über Neuwahlen nachgedacht. Schnell kündigten sie danach an, Schröder stelle am 1. Juli die Vertrauensfrage. Doch einen Masterplan, wer dann warum Nein sagen soll, hatten sie offenbar nicht parat – jedenfalls keinen, der politisch und juristisch wasserdicht wäre.
Das Bundesverfassungsgericht hat nach der Vertrauensfrage des Kanzlers Helmut Kohl 1983 zwar ein gewisses Maß an Verabredung und Inszenierung in Ordnung gefunden. Trotzdem muss es irgendeine Form der „Instabilität“ geben, um eine Vertrauensfrage zu rechtfertigen. Ein echtes Regierungsproblem ist also Voraussetzung für augenzwinkernde Trickserei.
Als Anlass für die Vertrauensfrage könnte die von Schröder geplante Unternehmensteuersenkung dienen. Doch da machen SPD-Linke und Grüne – bisher – nicht mit. Zwar waren sie entsetzt, als der Kanzler Mitte März seine Absicht ankündigte, den Körperschaftsteuersatz von 25 auf 19 Prozent zu senken. Sie fragten: Wer soll das bezahlen? Eine Antwort haben sie bislang von Schröder nicht bekommen. Dennoch wollen sie jetzt nicht wegen der fehlenden Gegenfinanzierung als Schröder-Mörder in die Geschichte eingehen.
Jetzt müsste das Gesetz erst einmal durch den Finanzausschuss. Dem sitzt die Grüne Christine Scheel vor, die weiter auf eine Gegenfinanzierung pocht. Versucht die SPD, das Gesetz allein durchzuwinken, und sträuben sich die Grünen, gäbe es den Koalitionsbruch schon im Finanzausschuss. Dann hätten die drei grünen Ministerinnen und Minister eigentlich auch gleich zurücktreten können. Was einige Grüne durchaus erwogen hatten. Dass als Ziel hinter Schröders Neuwahlaktion eine große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel steht, gilt vielen mittlerweile als ausgemacht.
Lassen sich weder Grüne noch SPD-Linke zum Brutus machen, könnte der Kanzler im Bundestag vielleicht noch seine Minister zu dieser Rolle verdonnern – das hat Willy Brandt 1972 auch gemacht. Verlockender für die SPD wäre dann aber eine Verfassungsänderung, die Schröder mit der Union gemeinsam – und wiederum gegen die Grünen – vollziehen müsste (siehe unten). „Eine Grundgesetzänderung kommt für uns nicht in Frage“, sagte Fraktionsvize Reinhard Loske der taz. Am liebsten würden sich die Grünen gar nicht mehr an den öffentlichen Überlegungen über den Weg zu Neuwahlen beteiligen. „Wir haben die Neuwahlidee nicht aufgebracht, das hat Schröder gemacht“, sagte Loske. „Die Grünen sind nicht in der Bringschuld, eine Lösung zu finden, wie man das Parlament auflösen kann.“
Bleibt die radikalste Lösung: Kanzlerrücktritt. Geht Schröder und kommt es dann zu keiner Mehrheit für einen Franz Müntefering oder eine Angela Merkel, kann der Bundespräsident das Parlament auch auflösen – schon nach 7 statt wie bei der Vertrauensfrage nach 21 Tagen. Der SPD-Kandidat könnte dann freilich nur noch Müntefering heißen – und in den Geschichtsbüchern stünde später:
„Nachdem er durch seine Neuwahlankündigung in der Regierungskoalition heilloses Chaos ausgelöst hatte, trat Bundeskanzler Gerhard Schröder doch noch vor dem angesteuerten Wahltermin, dem 18. September, zurück.“ Gut sähe das auch nicht aus.
Aber man streitet ja nicht nur. Manchmal redet man noch miteinander. Zum Beispiel morgen in einer Koalitionsrunde. Vielleicht findet sich da eine Lösung.