Den Islam zur Vernunft bringen

PHILOSOPHIEGESCHICHTE Mohammed Abed Al-Jabri zeigt in seiner „Kritik der arabischen Vernunft“ der arabischen Kultur einen Weg aus ihrer Vergangenheitsfixiertheit

VON MARTIN RIEXINGER

Nicht zuletzt weil Übersetzungen grundlegender Werke führender Denker fehlen, werden intellektuelle Debatten der islamischen Welt von der deutschsprachigen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert. Dem Perlen Verlag gebührt daher Lob dafür, dass er die „Kritik der arabischen Vernunft“ des marokkanischen Philosophen Mohammed Abed Al-Jabri zugänglich macht.

Al-Jabri war in jungen Jahren Marxist. Heute hält er jedoch bewusst Abstand zu den dominierenden weltanschaulichen Lagern. Den Islamisten hält er vor, sich unreflektiert am „Erbe“ zu orientieren, ja sich von ihm beherrschen zu lassen, und dass sie unkritisch die Vergangenheit zum Ideal erheben. Gegen die Liberalen und Marxisten wendet er hingegen ein, dass sie nicht weniger „fundamentalistisch“ Lehrmeinungen folgen, die unter völlig anderen gesellschaftlichen Bedingungen entstanden sind. Nach seiner Auffassung muss ein erneuertes arabisches Denken sich das „Erbe“ kritisch anverwandeln. Bei seiner Kritik verzichtet er jedoch auf die im arabischen Diskurs sonst übliche Polemik. Hierfür wird er dadurch belohnt, dass Anhänger unterschiedlicher Weltanschauungen seine Werke lesen.

Als Grundproblem der islamischen Geistesgeschichte betrachtet Al-Jabri, dass sich im Osten bereits früh eine irrationale, aus altiranischen Quellen schöpfende Tendenz durchgesetzt habe. Deren Grundlage sei der für das islamische Recht wesentliche Analogieschluss gewesen, der es erlaube, aufgrund oberflächlicher Ähnlichkeiten Sachverhalte in Beziehung zu setzen, zwischen denen keine substanzielle Gemeinsamkeit bestehe. Damit sei einer von der Religion unabhängigen Vernunft die Grundlage entzogen worden, da so die nur bestimmte Bereiche ansprechende Offenbarung auf alles bezogen werden konnte.

In Spanien und in Nordafrika habe sich der Islam hingegen entwickeln können, ohne sich mit einer anderen Hochkultur auseinandersetzen zu müssen. Anstelle des Analogieschlusses wurde nur die strenge Beweisführung der aristotelischen Logik akzeptiert. Das habe der Vernunft Autonomie verschafft, da die Zuständigkeit der Religion eingegrenzt worden sei. Daraus ergaben sich Freiräume für Philosophie und Wissenschaft, die kreative Köpfe nutzten. An die Stelle der Erzählung von Geschichte trat die Analyse politischer Herrschaft in einer von Stämmen dominierten Gesellschaft. Zur Rechtsfindung wurden nicht mehr einzelne Textbelege herangezogen, sondern die aus dem Koran in seiner Gesamtheit abgeleiteten Intentionen der Offenbarung.

Jabri ist allerdings nicht der Auffassung, aus den Ideen bedeutender Juristen und Philosophen der Vergangenheit ließen sich konkrete Anweisungen für die Gegenwart ableiten, da deren Auffassungen ein wissenschaftlich überholtes Weltbild zugrunde liege. Ihre Leistung, Wissenschaft und Religion auseinanderzuhalten, bleibe jedoch für die heutige Zeit von Bedeutung. Damit hätten sie nämlich gezeigt, dass die Vorstellung von einer autonomen Vernunft durchaus in der arabischen Zivilisation verankert sei. Auf dieser Grundlage könnten die Araber viel eher an einer universellen Moderne partizipieren als dadurch, dass sie westliche liberale Modelle, die andere historische Erfahrungen spiegeln, importieren.

■ Mohammed Abed Al-Jabri: „Kritik der arabischen Vernunft. Die Einführung“. Perlen Verlag, Berlin 2009, 232 Seiten, 19,80 Euro