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Archiv-Artikel

Ein schlechtes Gedicht und seine Feinde

Wovon der Wirbel um Günter Grass ablenkt

Von Thomas Rothschild

Das Beste an der Aufregung, die Günter Grass mit seinem Gedicht in der vergangenen Woche verursacht hat, ist, dass sie vorübergehend dem publizistischen Rummel um die neoliberale Kampfschrift gegen den angeblichen „Kulturinfarkt“ den Wind aus den Segeln genommen hat. Seit Sarrazin hat man entdeckt, dass man mit den dumpfesten reaktionären Thesen Umsatz machen kann. Und noch jene, die solchem Unsinn widersprechen, betreiben unfreiwillig dessen Geschäft.

(…)

Nun also der aktuelle Fall. Mit der nötigen Apodiktik: „Was gesagt werden muss“ ist ein schlechtes Gedicht. Aber wen interessiert schon die literarische Qualität dieses Aufregers? Wahrscheinlich nicht einmal Grass selbst. Es geht allein um die politische Aussage, die in jeder anderen Form die gleiche Wirkung erzielt hätte. Die Reaktionen waren voraussehbar wie ihre Protagonisten. Sie wiederholten rhetorisch ihre seit Langem bekannten Voreinstellungen.

Genau besehen liegen dem aufgeblähten Konflikt zwei Fragen zugrunde: die tausendmal durchgekaute, ob Kritik an Israel antisemitisch sei, und die sehr viel weniger diskutierte, was es mit Präventivkriegen auf sich habe. Autoren wie Henryk M. Broder, dem es gelungen ist, die Wortführerschaft im Gefecht mit Grass zu usurpieren, versichern immer wieder, dass man Israel selbstverständlich kritisieren könne, ohne dem Verdacht des Antisemitismus zu verfallen – nur um jeden, der Israels Politik kritisiert, des Antisemitismus zu zeihen. Grass hat recht: „Das Verdikt ‚Antisemitismus‘ ist geläufig.“ Wie sieht nach Broders Meinung eine nicht antisemitische Kritik am israelischen Spätkolonialismus aus? Wo hat er sie mit der gleichen Vehemenz, mit der er die angeblich antisemitische Kritik an Israel denunziert, formuliert? Welche Autoren hat er dafür gelobt?

In der Zeit hat sich das beharrliche Echo Broders, Josef Joffe, als Psychoanalytiker versucht. Er liefert eine Deutung, die den unbewussten Antisemitismus von Grass belegen soll. Nun haben tiefenpsychologische Diagnosen die fatale Eigenschaft, dass sie einleuchten mögen, aber nicht überprüfbar sind. Mit der gleichen Plausibilität, mit der Joffe Grass' Antisemitismus aufspüren will, könnte man Joffe unterstellen, dass er, unbewusst, versteht sich, eine unüberwindbare Abscheu gegen Schnurrbärte habe. Man versuche, das Gegenteil zu beweisen.

Der Kommentator der „Tagesthemen“ stritt am 5. April schlicht ab, dass Grass wegen seiner Kritik an Israel Antisemitismus vorgeworfen werde, und warf ihm Larmoyanz vor. Hat er Broders Attacke, Joffes Gastspiel als Dr. Freud vom Vortag und die zahlreichen in dieselbe Richtung zielenden Äußerungen nicht gelesen? Man kann den Vorwurf des Antisemitismus für gerechtfertigt oder für unzutreffend halten. Zu leugnen, dass er gemacht wurde, disqualifiziert den Kommentator. Überboten wurden jene, die Grass des Antisemitismus bezichtigen, einzig von Rolf Hochhuth, der dem deutlich begabteren Kollegen entgegenkotzt, er sei der SS-Mann geblieben, der er freiwillig geworden sei. Wenn sonst nichts, dann würde diese Gehässigkeit jedes mögliche Verschulden von Grass auslöschen. Wenn das Verdikt vom Antisemitismus ungerecht benutzt wird, heißt das freilich nicht, dass es keinen Antisemitismus in Deutschland und anderswo gibt. Ist Grass Antisemit? Vielleicht. Aber seine Kritik an Israel kann dafür als Beweis nicht dienen. Auch der Wink des israelischen Gesandten in Deutschland ist zwar witzig, aber wenig erhellend, wenn es um die Motive von Grass geht: „Was gesagt werden muss, ist, dass es zur europäischen Tradition gehört, die Juden vor dem Pessach-Fest des Ritualmordes anzuklagen. Früher waren es christliche Kinder, deren Blut die Juden angeblich zur Herstellung der Mazzen verwendeten, heute ist es das iranische Volk, das der jüdische Staat angeblich auslöschen will.“ Enthält die Ritualmord-Legende nach Auffassung des Gesandten tatsächlich ebenso viel Wahrheit wie die Warnung vor der Möglichkeit eines Kriegs gegen den Iran?

Es gibt zweifellos Israelkritiker, die Antisemiten sind, aber daraus lässt sich nicht schließen, dass Antisemit ist, wer Israel kritisiert. Das wäre, als würde man jeden, der eine Bank betritt, für einen Bankräuber halten, bloß weil auch Bankräuber Banken betreten. Man kann im Übrigen sehr gut ein Freund Israels und zugleich Antisemit sein. Wer wollte Wetten darauf annehmen, dass es nicht eine beträchtliche Zahl von Menschen gibt, denen Juden in Israel lieber sind als im eigenen Land, selbst und gerade, wenn Palästinenser die Zeche bezahlen? Da kann man einen Angriff auf den Iran schon in Erwägung ziehen. (…)

Im Nachhinein hat Grass zugestanden, dass er mit seiner Kritik nicht Israel, sondern die derzeitige israelische Regierung gemeint habe. Es hätte sicher zur Klarheit beigetragen, wenn er das in seinem Gedicht so formuliert hätte. Vor Angriffen hätte es ihn nicht bewahrt. Schließlich weiß jeder, was gemeint ist, wie er es wusste, wenn von der Sowjetunion die Rede war und Breschnew gemeint war. Man nimmt es auch nicht so genau, wenn deutsche Zeitungen melden: „Nordkorea trauert um Kim Jong Il“ oder „Deutschland unterzeichnet Acta vorerst nicht“.

Dass es all jenen, die sich über die Kritik von Grass an Israel öffentlich ereifern, tatsächlich um die Abwehr von Antisemitismus in Deutschland geht und nicht um eine fragwürdige Staatsräson mitsamt Geschäftsinteressen, glaube ich nur dann, wenn diese Leute lautstark widersprochen haben, als Ignatz Bubis 1993 vermutete, die Zeit sei noch nicht reif für einen jüdischen Bundespräsidenten in Deutschland. Man konnte Zweifel hegen an Bubis' Eignung für dieses Amt, wie man sie gegenüber manchen hegt, die es tatsächlich bekleiden. Dass er Jude war, hätte jedoch kein Hindernis sein dürfen in einem von Antisemitismus freien Land. Sogar das antisemitische Österreich hat sich einen jüdischen Bundeskanzler Bruno Kreisky geleistet.

Ob man der Aussage von Grass' Gedicht zustimmt, hängt gutenteils davon ab, ob man einen von Israel immerhin angekündigten Präventivkrieg für wahrscheinlich hält und wie man Präventivkriege grundsätzlich bewertet. Bekanntlich gibt es Menschen, die den Überfall Deutschlands auf Polen und die Sowjetunion als Präventivkrieg bezeichnen, und der Historiker Ernst Nolte, zum Beispiel, hat versucht, dieser These Plausibilität zu verleihen. Auch der Dritte Golfkrieg wurde als Präventivkrieg dargestellt und damit gerechtfertigt, dass der Irak Massenvernichtungswaffen horte, die allerdings niemals gefunden wurden. Wer Präventivkriege für zulässig hält, müsste zumindest doppelt skeptisch sein, wenn ein Angriff damit begründet wird, dass er einem Angriff von der anderen Seite zuvorkommen musste.

Dass der Iran an einer Atombombe baut, dürfte wahrscheinlich sein. Bewiesen ist es nicht. Legitimiert das einen Präventivkrieg? Was, wenn man sich einmal mehr, wie bezüglich des Irak, „irrte“? Und selbst, wenn es zutrifft: Ist Krieg die einzige Option für die Sicherung der Existenz Israels? Es ist einfach nicht wahr, was die Kontrahenten von Grass behaupten, dass die Gefahr, die vom Iran für Israel und die Welt droht, von den Medien verschwiegen würde. Sie ist im Gegenteil seit Jahren Gegenstand der Berichterstattung und der Empörung, und eine Kontrolle des iranischen Atomprogramms durch internationale Institutionen muss gefordert werden und wird gefordert. Der deutsche Außenminister hat diese Forderung eben erst in seiner Reaktion auf Grass wiederholt. Trotzdem kann man unterschiedlicher Meinung darüber sein, wie man der vom Iran ausgehenden Gefahr adäquat begegnen sollte.

Ob man einen möglichen Angriff Israels auf den Iran nun als Präventivkrieg oder als Angriffskrieg einschätzt, ist in Bezug auf Grass von elementarer Bedeutung. Er protestiert gegen die Lieferung eines weiteren U-Boots an Israel. Das bedeutet keineswegs, wie die Gegner des Schriftstellers wiederum behaupten, dass er Israel das Selbstverteidigungsrecht abspreche. Er befindet sich lediglich auf dem „Boden der Verfassung“. Im Kriegswaffenkontrollgesetz der Bundesrepublik Deutschland heißt es:

„Auf die Erteilung einer Genehmigung (für die Beförderung von Kriegswaffen) besteht kein Anspruch. Die Genehmigung kann insbesondere versagt werden, wenn (…) die Gefahr besteht, dass die Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung, insbesondere bei einem Angriffskrieg, verwendet werden.“

Mit gutem Grund wird, keineswegs nur von Grass, vor dem Export von Waffen, also auch von U-Booten der Dolphin-Klasse, die atomar bestückte Marschflugkörper abfeuern können, in Krisengebiete gewarnt. Wo, wenn nicht im Nahen Osten, bestünde ein Krisengebiet? Zahlreiche Persönlichkeiten und Organisationen, so auch Pax Christi und die Bundestagsfraktionen von SPD und B 90/Grüne, haben zu Recht gegen den Export von Leopard-Panzern nach Saudi-Arabien protestiert. Wie hätte die deutsche Öffentlichkeit reagiert, wenn Saudi-Arabien allen Unterzeichnern ein Einreiseverbot erteilt hätte, wie Israel es jetzt für Grass beschlossen hat? (…)

Vergangene Woche wurde gemeldet, dass Israel im Fall eines Kriegs mit dem Iran mit maximal 300 Toten im eigenen Land rechnet. Über die Zahl der Toten im Iran wurden keine Angaben gemacht, auch nicht darüber, wer die Verantwortung übernehmen werde, wenn die Zahl 300 überschritten wird. Fehleinschätzungen bei der Zahl von Opfern von militärischen Aktionen sollen in der Geschichte ja schon vorgekommen sein, und wie es mit der Verantwortung von Kriegsverbrechern aussieht, die mit falschen und gefälschten Angaben Bombardements auslösen, hat uns der Dritte Golfkrieg gelehrt. Aber selbst wenn es bei 300 bleibt: wer diese Zahl für hinnehmbar hält, muss sich fragen lassen, ob er diese Meinung aufrechterhielte, wenn seine Tochter, sein Sohn unter den 300 wären. Wenn er das nicht mit Sicherheit bejahen kann, möge er, mit Verlaub, das Maul halten.

Vergangene Woche auch, am Mittwoch, den 4. April, wurde der Botschaft von Israel in Bern ein von immerhin 1480, darunter vielen prominenten Juden aus 32 Ländern unterzeichneter Aufruf übergeben. Sein Wortlaut: „Aus Mitverantwortung füreinander, im Geiste jüdischer Tradition – weil die Besatzung die Lebensperspektiven der Besetzten und die Seelen der Besetzenden zerstört: Appell an die israelische Regierung: Wir, die unterzeichnenden Jüdinnen und Juden, erwarten die Beendigung der israelischen Besatzung, Besiedlung und Blockade palästinensischer Gebiete. Wir bestehen auf würdigen Lebensbedingungen sowie auf Sicherheit für alle Menschen in Israel und Palästina.“

Warum wird darüber nicht mit ebensolcher Ausführlichkeit berichtet wie über Broder, Joffe und Co? Jenen gegenüber, die Kritikern an der Politik Israels, jüdischen übrigens ebenso wie nicht jüdischen, Chomsky ebenso wie Grass, Antisemitismus bescheinigen, kann man pointiert, aber mit der gleichen Berechtigung formulieren: Antisemit ist, wer den Eindruck erweckt, alle Juden seien so dumm und borniert wie die Nationalisten anderswo, die, right or wrong – my country, die Untaten der „eigenen Leute“ verteidigen: wie die Engländer, die, Tory oder Labour, Margaret Thatchers Falklandkrieg unterstützt haben, wie die Österreicher, die gegen Sanktionen der EU wegen der Regierungsbeteiligung von Jörg Haider den „Schulterschluss“ gepredigt haben, wie die Ungarn, die Kritik an Orbán und seiner Regierung als Verleumdung abwehren, wie die Deutschen, Sozialdemokraten bis zum Verbot ihrer Partei inbegriffen, die meinten, selbst Hitler gegen das feindliche Ausland verteidigen zu müssen. Sie haben sich freiwillig für die Politik eines Staats in Geiselhaft nehmen lassen. Viele Juden sind ja, leider, wie sie. Aber dass es doch auch eine beträchtliche Zahl gibt, die eher mit Grass als mit Broder übereinstimmt, sollte nicht verschweigen, wer den Juden nicht feindlich gesinnt ist.

(…)

■ Weil sich die Nachrichtenlage von Stunde zu Stunde verändert: Dieser Artikel wurde am Montag, 9. 4. um 11 Uhr abgeliefert. Die ungekürzte Fassung ist auf www.kontextwochenzeitung.de nachzulesen