„Ich brauche jemanden, der mich versteht“

FREIHEIT DES WORTES Der chinesische Dichter Bei Ling über das Exil, Paul Celan und den Ausschluss der unabhängigen chinesischen Literatur von der Londoner Buchmesse

■ 1959 in Schanghai geboren, ist Poet und Essayist. Er geriet mehrfach in Konflikt mit den chinesischen Sicherheitsbehörden. 2001 gründete er den unabhängigen chinesischen PEN. 2009 führte seine Teilnahme an einem Symposium auf der Frankfurter Buchmesse zu einem Eklat. Er lebt in den USA und Taiwan.

taz: Es gibt eine Zeile in Ihrem Gedicht „Verbannung“: „Mit meinen Zeichen putz ich den Himmel des Auslands“, und weiter heißt es: „Die Wurzeln der Dinge / Die bleiben und halten uns weiter gefangen // Hier bin ich verbannt / Bis ans Ende der Zeit / Wie ein Fluch auf dem Land“. Mich erinnern diese Zeilen an die griechische Tragödie. Wohnen Sie in der Sprache?

Bei Ling: Seit 1989 bin ich viel umhergestreift, ohne festen Wohnsitz. Im Herbst des Jahres 2000 wurde ich aus China deportiert, seitdem bin ich im Wortsinn im Exil. Was ich mitbringe, ist Sprache. Meine Muttersprache, ich lebe in der Sprache. Mit Englisch komme ich in der Welt zurecht, in meiner Muttersprache schreibe ich. Ja, ich bin in der Welt in der Sprache. Ich brauche jemanden, der mich versteht. Das lässt mich an Paul Celan denken, der sein ganzes Leben lang viele Briefe schrieb.

Sie sagen über Gao Xingjian, der den Literaturnobelpreis erhielt, er hätte sich am liebsten ganz der Literatur und der Kunst gewidmet. „Aber die Zeiten sind einem nicht gewogen, die Politik verfolgt uns wie ein Schatten“, sagte er.

Vor allem kann ich die Schwermut nicht abstreifen. Westlich ausgedrückt bin ich vom Sternzeichen her Steinbock, Aszendent Saturn. Wir sind in einer Diktatur geboren. Wenn wir der Literatur und der Kunst ganz und gar folgen könnten, dann wäre das auch eine Befreiung. Brodski sagte: „Wenn wir vergessen haben, wie man den Namen des Tyrannen schreibt, dann sind wir wirklich frei.“

Sie sprechen von Untergrundliteratur, von den Literaturen des Exils und von Unabhängigen Stimmen. Was meinen Sie mit „Unabhängigen Stimmen“?

Meinem Verständnis nach entsteht die chinesische Exilliteratur aus der Untergrundliteratur. Sie unterscheidet sich von der offiziell anerkannten Literatur durch die Erfahrungen der Schriftsteller und durch ihren Charakter, vor allem aber besteht ein Unterschied in der Ästhetik. „Unabhängige Stimmen“, das heißt, dass Schriftsteller nicht vom offiziellen Schriftstellerverband und von den Kulturbehörden abhängig sind, und vor allem heißt es, dass sie sich nicht selbst zensieren, um in China publizieren zu dürfen. Früher versteckte man Gedichte und Manuskripte in der Schublade oder an einem sicheren Ort. Heute gibt man diese Texte in einen Computer ein; dann muss man warten, welches Schicksal sie haben.

Sie waren einer der Gründer und wesentlich am Aufbau des Independent Chinese PEN Center beteiligt. Sie verlangten jetzt, dass die Stimmen der Inhaftierten und ins Exil getriebenen chinesischen Autorinnen und Autoren auf der Londoner Buchmesse zugelassen werden.

Gemeint ist das weite Spektrum der Literaturen, die nicht in China publiziert werden können. Während der Londoner Buchmesse 2012 ist dieser wichtige Teil der chinesischen Gegenwartsliteratur ausgeschlossen. Das British Council, eine Organisation, die der britischen Regierung untersteht, arbeitet für den China-Schwerpunkt der Buchmesse ausschließlich mit der chinesischen Zensurbehörde GAPP zusammen. Ich habe das kritisiert. Ich sehe das als meine Pflicht an, sozusagen als Anwalt der Literatur.

Sie nennen Ihr Buch „Ausgewiesen. Über China“ „Memoir“. Sie schrieben Essays auch über Liu Xiaobo; über Ai Wei Wei. Und immer wieder Susan Sontag.

Wir gehören der gleichen Generation an, wir haben alle in New York gelebt. Das war eine wichtige Zeit in meinem Leben. Unsere Lebenswege sind sehr unterschiedlich, aber auf jeden Fall mit vielen Windungen verlaufen. Susan Sontag war eine große Schriftstellerin, sie war älter als ich und sie war meine Wohltäterin. Sie war scharfsichtig und sehr belesen, ich war ihr immer unterlegen. Wenn ich bei ihr war, habe ich viel zugehört.

Sie gründeten das literarische Magazin Tendenzen. Es erschien sieben Jahre lang. Die 13. Ausgabe wurde in Peking beschlagnahmt. Sie wurden verhaftet. Glaubten Sie an eine „Offensive des Geistes“?

Verleger sein, das ist auch eine Methode, zuallererst für sich selbst gute Bücher aufzuspüren. Ich habe Paul Celans Biografie und seine Gedichte deshalb auf Chinesisch herausgegeben, weil ich sie lesen wollte. Seine Gedichte sind meine Rettung, außerdem eine Sammlung von Briefen, die Rilke, Marina Zwetajewa und Pasternak 1926 einander geschrieben haben. Diese Bücher habe ich in unserer chinesischen Ausgabe immer im Gepäck. Auch das lange Gedicht „Aufruhr der Trennung“ („Li Sao“) von Qü Yüan. Als ich 1998 Vaclav Havels Briefe aus dem Gefängnis herausgab, hätte ich nicht gedacht, dass sie mir zwei Jahre später selbst helfen würden, die Haftzeit zu überstehen. Wenn Tendenzen wieder herauskommen könnte, dann möchte ich das „Exil in der Literatur“ zum Thema machen. Ich will weitermachen, wollte es immer.

Übersetzungen: Allen Hongwei/Martin Winter

INTERVIEW: ESTHER DISCHEREIT

■ Bei Ling „Ausgewiesen. Über China“, Suhrkamp, 2012. 194 S., 19,90 Euro

■ Lesung am 19. April, Berlin, Buchhandlung 89, 19 Uhr

■ Stand des Independent Chinese PEN Center (ICPC): London Book Fair W210 (C) Hongkong based publishing houses