Vom Slum zur City of God

Wo die Zukunft des Städtischen definiert wird: Die Reihe „metroZones“ analysiert die armen Randgebiete von Istanbul, Rio de Janeiro und Buenos Aires

Was geschieht in den so genannten Mega-Cities? Mit gleich zwei neuen Bänden setzt die zur Beantwortung dieser Frage einschlägige Edition „metroZones“ ihren Beitrag zum internationalen Stadtdiskurs fort. Durch „Self Service City: Istanbul“ und „City of Coop“ ist die von Jochen Becker und Stephan Lanz kuratierte Reihe in weniger als zwei Jahren auf fünf Titel angewachsen. In ihrem Fokus und ihrer Ausrichtung bilden die beiden Neuerscheinungen zugleich Synthese und Erweiterung der vorangegangenen Publikationen.

Verhandelten die ersten beiden Bände noch die Folgen von Globalisierung, neoliberaler Wirtschaftspolitik und Ansätzen des so genannten guten Regierens, setzte der dritte Band diesem Blick von oben die Perspektive von unten entgegen und stellte verschiedene Modelle selbst organisierten Handelns in partizipativen Bauprojekten vor. In den nun erschienenen Bänden vier und fünf treffen sich beide Handlungsdimensionen im – mitunter auch produktiven – Widerstreit. Zugleich ist der Umfang erstmals auf konkrete Zustandsbeschreibungen von einer bzw. zwei Metropolen beschränkt, die in ihren Analysen jedoch zu Einsichten allgemein gültiger Reichweite gelangen. Methodisch zielen die Herausgeber weniger auf die theoretische Diskussion als auf eine „dichte Beschreibung“ beispielhafter Aktivitäten städtischen Alltags. Das ist, zumal bei Anthologien solchen Umfangs, eine erfreuliche Entscheidung, denn dadurch wechselt der Ansatz der Beiträge ständig zwischen Interviews, Reportagen, Abhandlungen oder tagebuchartigen Aufzeichnungen.

Inhaltlich geht es, wie in der ganzen Reihe, um die „Marginalien des Stadtbewusstseins“, die vom etablierten Diskurs übers Urbane verdrängten oder gering geschätzten „widerständigen Praktiken des städtischen Alltags“. Denn was sich in den Stadtgebieten jenseits der pittoresk restaurierten historischen Altstädte oder der Touristenvergnügungsquartiere abspielt – in den Gecekondus von Istanbul, den Favelas von Rio de Janeiro, den Villas Miserias von Buenos Aires –, ist von weiter reichender Bedeutung, als bloß Anlass für neuerliche Betroffenheitsbekundungen bzw. Material für die soundsovielte Reportage über Armut, Drogenprobleme und Gewaltspiralen zu liefern. Im Gegenteil: Gerade in den Randgebieten wird die Zukunft des Städtischen definiert, werden andere Formen kollektiven Zusammenlebens experimentell ausprobiert oder staatlich verordnet, werden neue Modelle der Gouvernementalität zum ersten Mal implementiert, werden alternative „Ersatzökonomien“ den kapitalistisch organisierten Geld- und Warenströmen entgegengesetzt. Die Berichte aus den drei Weltmetropolen sind mithin, wie Lanz betont, auch als ein Blick auf „eine mögliche Zukunft“ europäischer Städte zu verstehen.

Die zu untersuchenden Dimensionen heißen Politik, Wirtschaft und Kultur. Dass die drei Bereiche gleichberechtigt zu behandeln sind und kulturell-symbolische Praktiken nicht etwa nur als Anhängsel der anderen beiden gelten können, zeigt sich unter anderem an der listigen Praxis der Bewohner illegal oder informell entstandener Stadtviertel, ihrem Quartier den Namen irgendeines Nationalhelden zu verleihen, um es so unangreifbarer zu machen. An Filmen wie „City of God“, der als internationaler Kinoerfolg in Brasilien eine Debatte über Fremd- und Selbstdarstellung der Bewohner des gleichnamigen Stadtteils auslöste, wird überdies sinnfällig, wie die kursierenden Images den Betroffenen handfeste Vor- und Nachteile in Form von staatlichen Interventionsprogrammen bringen können.

Mit mehreren Mythen räumen die Beiträge der beiden Bände auf. Das ist, zum einen, der von der Staatsferne der illegal errichteten Wohngebiete, die sich jenseits von jeglichem staatlichen Einfluss quasi „natürlich“ gebildet hätten. Das gilt weder historisch noch aktuell – die Favelas von Rio de Janeiro sind eine direkte Folge der Haussmannisierung der Stadt in den 1920ern, und staatliche Interventionen haben ihre Entwicklung seither begleitet. Genauso wenig gilt, dass die Ungesetzlichkeit der Ansiedlungen den Regierungen nur ein Dorn im Auge gewesen wäre. Die Gecekondus von Istanbul sind auch eine Erfolgsgeschichte für den Staat, der es ohne die eigentlich illegalen Praktiken der kleinkapitalistischen Bauunternehmer kaum geschafft hätte, den Strom der vom Land in die Stadt Zuziehenden so schnell und so billig mit Unterkünften zu versorgen.

Was jeweils entsteht, wenn informelles Handeln auf staatliche Reglementierungen trifft, kann nicht pauschal vorhergesagt werden. Dass das Handeln der Subjekte in der erzwungenen Informalität „frei“ oder voll umfänglich selbstbestimmt wäre, behauptet niemand, es lässt sich aber, so der Standpunkt aller Beiträge, auch nicht auf bloß reaktives Handeln reduzieren. Deutlich äußert sich darin eine Kritik an der Wende des Soziologen Manuel Castells, der städtischen sozialen Bewegungen in den Siebzigern noch ein emanzipatorisches Potenzial zuschrieb, nur um ihnen später eine nur noch marginale Rolle zwischen Kleinkriminalität und staatlicher Kooptation zuzugestehen.

DIETMAR KAMMERER

Orhan Esen, Stephan Lanz (Hg.): „Self Service City: Istanbul“. b_books, Berlin 2005, 424 Seiten, 16 Euro Stephan Lanz (Hg.): „City of Coop. Ersatzökonomien und städtische Bewegungen in Rio de Janeiro und Buenos Aires“. b_books, Berlin 2005, 296 Seiten, 14 Euro