AUF WOHNUNGSBESICHTIGUNGSTOUR, EINFACH NUR SO : Hedwigs Hängeboden
VON DIRK KNIPPHALS
Die Küche war schön groß, schön hell, schön leer. Sie wirkte wie eine Einladung zu einem neuen, klareren und gemütlichen Leben. Und man dachte sich: Man sollte häufiger Wohnungen besichtigen, auch ruhig nur so, wenn man gar keine Wohnung braucht. Schließlich ist das auch so eine Art Spaziergang. Das Leben der Anderen. Andere mögliche eigene Leben. Wie blättern in einem Katalog möglicher Ich-Entwürfe.
Es war die dritte Wohnung an diesem Tag und bislang bei weitem die interessanteste. Hinten in der Ecke der Küche gab es eine zweite, kleine Tür. „Das ist die Kammer, mit Waschmaschinenanschluss. Sehen Sie?“, sagte der Makler. Er öffnete die Tür, man warf einen Blick hinein. Es wirkte tatsächlich praktisch.
Direkt über dieser Tür gab es aber noch eine Tür, gemacht wie für Zwerge, irgendwie sah sie wie der Eingang nach Auenland aus. Sie fing erst auf halber Wandhöhe an und reichte bis zur Decke. Sofort rutschte einem die Frage raus: „Und was ist das da?“ Der Makler blätterte in seinen Unterlagen und zuckte mit den Achseln. Er wusste es auch nicht. Dann sagte er: „Sehen wir doch einfach mal nach.“ Er holte eine Leiter, die die Handwerker noch auf dem Balkon stehengelassen hatten, und stieg hinauf. Der Schlüssel steckte, er klemmte zuerst, aber dann drehte er sich doch. Und was man dann sah, erst der Makler, dann auch mal selbst, war ein etwa 1,40 Meter hoher, schmaler Raum, der sich fünf Meter lang erstreckte, dann noch einmal um die Ecke bog, sich schließlich nach oben hin verjüngte und sogar zwei, wenn auch kleine Fenster hatte.
„Ach, sehen Sie mal“, sagte der Makler, „nannte man früher so etwas nicht Hängeboden?“ Vielleicht hatte er, wie man selbst, sofort die magischen Wörter „Viel Stauraum“ im Kopf. Vielleicht aber auch unwillkürlich Bilder von Kindern, die sich abends tapfer und abenteuerlustig mit Taschenlampe und einer Notration Kekse im Schlafsack in diese Art Höhle kuscheln, um sich mitten in der Nacht doch vor Gespenstern zu gruseln und sich dann wieder halb beschämt und halb erleichtert in ihr Kinderzimmer zu verziehen. „Solche Besonderheiten werden von Kunden heutzutage sehr geschätzt“, erklärte der Makler noch. Beim nächsten Besichtigungstermin verkaufte er die obere Tür und was sich dahinter verbarg, sicher gleich als individuelle Note. Individuelle Noten, muss man wissen, sind für die heutigen Wohnungsmieter und -käufer hier in Schöneberg inzwischen genauso obligatorisch wie die abgezogenen Dielen, die direkt auf Putz aufgetragene Wandfarbe und die etwas bessere Badewanne mit dem Abfluss in der Mitte, damit man sich, wenn man sich als Paar hineinlegt, nicht streiten muss, wer auf die bequemere Seite kommt. Auch das sind Erkenntnisse so eines Besichtigungstages.
Fontane-Lesern können zu so einer Tür übrigens noch andere Geschichten einfallen. Im „Stechlin“ gibt es ein Dienstmädchen, Hedwig, die ganz andere Erfahrungen mit Berliner Hängeböden gemacht hat. Fontane lässt sie frisch von der Leber weg erzählen: „Immer sind sie in der Küche, mitunter dicht am Herd oder auch gerade gegenüber. Und nun steigt man auf eine Leiter, und wenn man müde is, kann man auch runterfallen. Aber meistens geht es. Und nun macht man die Tür auf und schiebt sich in das Loch hinein, ganz so wie in einen Backofen. Das is, was sie ’ne Schlafgelegenheit nennen. Und ich kann Ihnen bloß sagen: auf einem Heuboden is es besser, auch wenn Mäuse da sind. Und am schlimmsten is es im Sommer. Draußen sind dreißig Grad, und auf dem Herd war den ganzen Tag Feuer; da is es denn, als ob man auf den Rost gelegt würde.“
Während man noch oben auf der Leiter stand und in den Hängeboden sah, fragte man sich jedenfalls, ob hier früher einmal wirklich Dienstmädchen untergebracht worden waren – und ob sie sich ähnlich schrecklich gefühlt hatten wie Hedwig. Auch ein Moment, den man von so einem Besichtigungstag mitnimmt. Er gab dieser Wohnung ein Stück historischer Patina, inmitten all ihrer so hübsch hinrenovierten Unschuld.