: Als die Schreiber laufen lernten
Die Zeitungsbranche beklagt schon seit geraumer Zeit den Mangel an Zustellern. Mit einer in der Branche Aufsehen erregenden Aktion will die in Leutkirch im Allgäu erscheinende „Schwäbische Zeitung“ dem Problem zu Leibe rücken: Die Redakteure sollen ihr frisch gedrucktes Produkt selbst zum Leser bringen
von Rudi Schönfeld
Der Kollege aus einer der kleineren Lokalausgaben der Schwäz, wie das Blatt landläufig genannt wird, schildert seinen Tagesablauf: Abfahrt zum Auswärtstermin um acht Uhr, Rückkehr gegen 16 Uhr, Aufmacher schreiben für den nächsten Tag, zusätzlich eine Meldung für den Mantelteil absetzen, anschließend Fremdtexte redigieren und nebenbei Seiten produzieren, Feierabend gegen Mitternacht. „Und dann“, schimpft der Redakteur, der namentlich nicht genannt werden will, „soll ich um vier Uhr aufstehen und Zeitungen austragen.“ Mit seiner Wut auf seinen Arbeitgeber steht er nicht allein.
Die E-Mail, die unlängst die Mitarbeiter der Schwäbischen Zeitung erreichte, löste weithin Unverständnis aus: „Heute wenden wir uns mit einer ungewöhnlichen Bitte an Sie“, hieß es einleitend. Weiter stand zu lesen: „Wir bitten Sie, auf freiwilliger Basis und zeitlich befristet im Notfall als Zusteller einzuspringen.“ Dies allerdings höchstens einmal im Jahr und dann längstens für zwei Wochen am Stück. Für die zusätzliche Arbeit bot der Verlag zehn bis fünfzehn Euro für die auf ein bis eineinhalb Stunden angesetzte Zustellungstour. Allerdings, so lautete die Bedingung, müssten bis sechs Uhr morgens alle Zeitungen bei den Lesern sein – und das bei jedem Wetter.
Der Berufsverband sieht einen Verfall der Sitten
Ob beabsichtigt oder nicht– wieder einmal hat es der Schwäbische Verlag mit seiner gerne als „Flaggschiff“ bezeichneten Schwäbischen Zeitung in die überregionalen Schlagzeilen geschafft. Thomas Godawa, baden-württembergischer Landesvorsitzender im Deutschen Journalistenverband (DJV), sieht in der Aktion einen zunehmenden Verfall der Sitten und einen weiteren Beweis dafür, wie schlimm es um die Wertigkeit der Redakteurinnen und Redakteure bei ihrem Verlagshaus bestellt ist. Das in der südwestdeutschen Zeitungslandschaft angesehene, konservativ ausgerichtete und im Untertitel „unabhängig“ und „christlich“ firmierende Blatt ist in den vergangenen fünfzehn Jahren personell und inhaltlich so ausgezehrt worden, dass einst ausgesprochene Freunde der Schwäbischen Zeitung wie der ehemalige Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) von einem Trauerspiel sprechen.
Berichte über den Hinauswurf des ehemaligen Kirchenredakteurs, der dem damaligen Rottenburger Bischof Walter Kasper Informationen über angebliche scientologische Umtriebe in der Beletage des Verlags hinterbracht haben soll, hielten die Zeitung beständig im Gerede. Die fristlose Kündigung des Biberacher Lokalchefs und seines Kreisredakteurs wegen angeblich unbotmäßigen Verhaltens dem Biberacher Landrat gegenüber oder die Schließung von regionalen Korrespondentenbüros sowie der Lokalredaktionen in Ulm, Rottweil und Schramberg mit mehr als dreißig Redakteuren sorgten ebenfalls für Gesprächsstoff.
Nicht nur derlei Geschichten aus dem Innenleben des Verlagshauses haben die Leser nachhaltig verärgert. Vor allem das an Umfang und redaktionellem Inhalt zunehmend dünner und beliebig gewordene Produkt zog im Laufe der Zeit immer mehr Abbestellungen nach sich. Die verkaufte Auflage sank von mehr als 200.000 Exemplaren Anfang der 1990er-Jahre auf derzeit knapp über 170.000. Dass das Blatt dennoch nach Angaben des Branchendiensts Kress-Report zu den profitabelsten Regionalzeitungen der Republik gehören soll, passt zu einer Verlagspolitik, die, wie auch der Journalistenverband immer wieder beklagt, vorwiegend auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen worden ist.
Der Chefredakteur will seine Mitarbeiter „sensibilisieren“
Nun sollen diese Mitarbeiter nicht mehr nur schreiben, fotografieren, Seiten produzieren und – wie bei einzelnen Lokalausgaben zu beobachten – Abonnenten werben, sondern morgens vor Beginn ihrer eigentlichen Arbeit auch noch Zeitungen austragen. Chefredakteur Hendrik Groth, seit gut einem Dreivierteljahr beim Verlag, verneint im Interview mit dem Branchendienst Meedia, dass es eine Aufforderung oder Verpflichtung von Redakteuren gebe, Zeitungen zuzustellen. Es sei vielmehr der Versuch, Mitarbeiter „für unsere Probleme zu sensibilisieren“. Man habe, räumt er ein, „dramatische Probleme bei der Zustellersituation“. Es gebe tatsächlich Bereiche, wo man überlegen müsse, auf Postzustellung umzusteigen. Doch das sei für eine Zeitung ziemlich übel.
Als Ursache der auch bei anderen Verlagshäusern zu beobachtenden Schwierigkeiten bei der Anwerbung von Zustellern hat Alexander Bachmann, Geschäftsführer der Zustellungs- und Logistiktochter der Schwäbischen Zeitung, Merkuria, die regional sehr niedrige Arbeitslosenquote und das große Angebot an offenen Stellen – gerade bei Nebenjobs auf 400-Euro-Basis – ausgemacht. Sicher liege ein Teil des Problems aber auch an einer Veränderung der Arbeitseinstellung in weiten Teilen der Bevölkerung. Jobs mit weniger guten Rahmenbedingungen wie der frühmorgendlichen Arbeitszeit und den wetterbedingten Einflüssen seien einfach schwerer zu besetzen.
Eine „Schnapsidee“ sei das Ansinnen der Zusatzarbeit gleichwohl, heißt es in Redakteurskreisen der Schwäz. Nach Groths Angaben haben bisher 40 der rund 900 Verlagsmitarbeiter einer Teilnahme an der Aktion zugestimmt, Vertriebschef Bachmann spricht sogar von 60. Aber, schränkt Groth ein, er wisse nicht, ob Redakteure darunter seien. Danach frage er ganz bewusst nicht. Und: Es gebe weder einen Pluspunkt für die nächste Beförderung noch einen Malus.