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Archiv-Artikel

Purer Luxus

CLOSE READING Heute ist Record Store Day, der Tag des Schallplattenladens. Und deshalb begehen wir diesen Festtag mit einer Besichtigung des größten europäischen Vinyl-Presswerks, Record Industry in Holland

In der Produktion einer Schallplatte bedeutet „sinnlich“ aber vor allem „dreckig und laut“

VON CHRISTIAN WERTHSCHULTE

Eigentlich ist es mit Schallplatten wie mit allen Leidenschaften – sie haben einen eher schnöden Ursprung. Im Fall von Vinyl ist es ein grauer Flachbau in einem schmucklosen Industriegebiet von Haarlem, selbst ein schmuckloser Vorort von Amsterdam. Hier liegt das größte Vinyl-Presswerk in Europa: Record Industry. Ein wenig ironisch klingt der Name schon, aber so ganz verkehrt ist er nicht. „Vinyl ist eine Nische, aber sie wächst“, erzählt Ralph Buchbender vom Tonträgervertrieb „Cargo“.

Wenn am heutigen Samstag auch in Deutschland Vinyl-Fans durch die Straßen der Großstädte ziehen, dann ist das auch ein wenig sein Verdienst. In der Wuppertaler Cargo-Zentrale rief man vor ein paar Jahren den deutschsprachigen Ableger des Record Store Day, den Tag des Schallplattenladens, ins Leben. Die Grundidee ist einfach: Labels pressen ein limitiertes Stück Vinyl, das nur einen Tag lang erhältlich ist, und Plattenfans stürmen die Läden. Und das funktioniert gut. Dieses Jahr kann man 130 exklusive Releases in ebenso vielen Läden kaufen.

Nachhall der alten Tage

Ein Geheimtipp ist die Nische Vinyl aber nicht mehr. Selbst Lady Gaga hat von ihrem letzten Album 2.000 Exemplare auf Vinyl pressen lassen. Bei Record Industry dauert das ein paar Stunden, 20.000 bis 25.000 Platten werden hier jeden Tag gepresst, 40 Prozent sind Wiederveröffentlichungen, der Rest Neuveröffentlichungen. Klar, im Vergleich zur goldenen Ära von Vinyl ist das wenig. Und ein bisschen lebt man bei Record Industry auch noch vom Nachhall der alten Tage.

Hier wurden einst Platten von Bob Dylan oder Michael Jackson für den europäischen Markt von den Multis CBS und Sony hergestellt, bis Sony das Presswerk verkaufte. So ganz abgerissen ist die Verbindung aber nicht. „Music-on-Vinyl“, ein Label, auf dem hauptsächlich hochwertige 180g-Wiederveröffentlichungen herauskommen, bedient sich aus dem Backkatalog von Sony und seines Indie-Ablegers Creation Records (u. a. Oasis), lässt seine Platten hier pressen. Das Konzept scheint aufzugehen – „Music-on-Vinyl“ ist in zweieinhalb Jahren immerhin auf 500 Veröffentlichungen gekommen.

Ein Label nur für Vinyl-Wiederveröffentlichungen ist ein recht neues Phänomen. Lange waren vor allem DJs Konsumenten von Vinyl, seitdem man aber mit dem Laptop flexibler und günstiger auflegen kann, wird deren Anteil an den Käufern niedriger. Stattdessen wird Vinyl interessant, weil man es anfassen kann.

„Platten sind einfach sinnlicher“, diesen Satz hört man fast immer, wenn man Leute fragt, warum sie ihre Plattensammlung nicht durch eine große Festplatte ersetzen wollen.

In der Produktion einer Schallplatte bedeutet „sinnlich“ aber vor allem „dreckig und laut“. In den meisten Elektronik-Sweatshops tragen die Arbeiter Mundschutz und Haarnetz, in der Vinyl-Produktion trägt man einen fleckigen Kittel. Record Industry ist das Relikt eines Industriezeitalters, in dem mechanische Feinjustierung und Massenproduktion den Markterfolg garantiert haben.

Nur zu Beginn, beim Mastering, muss es steril zugehen. Mastering nennt man den Prozess, in dem die Lautstärke einer Studioaufnahme für den jeweiligen Tonträger angepasst wird. Es gibt Mastering-Studios, die legendär sind. Transition in Südlondon zum Beispiel, wo die Sound-Aficionados aus der britischen Dubstep-Szene mastern lassen, damit auch die unhörbaren Bassfrequenzen auf ihren „12 inch“-Maxis landen.

Krisensicherer Job

In fast allen dieser Studios steht eine „Neumann“, eine Maschine, mit der Rillen in eine Azetat-Scheibe – ein Dubplate – geritzt werden. Es ist Präzisionsarbeit. Dem Schneidekopf ist ein Sensor vorgeschaltet, der etwa beim Einsetzen einer Bassline verhindert, dass er durch die starken Vibrationen ausschert. „Made in Germany“, sagt der Toningenieur Rinus Hooning und lacht.

Auch wenn ein Album mittlerweile als Datei in seinem Studio ankommt, ist sein Job krisensicher. Mastering ist der erste Schritt in der Musikproduktion, der im Heimstudio kaum reproduziert werden kann. Trotzdem waren die Bedingungen früher besser.

„Niemand hat mehr das Geld für ein spezielles Vinyl-Mastering“, klagt Hooning. Stattdessen müssen CDs, MP3s und Vinyl vom gleichen Master hergestellt werden, was man auch hört. Chillwave-Alben klingen auf Vinyl fast immer ein wenig fade, weil sie für digitale Tonträger gemastert werden.

Aus dem Mastering-Azetat wird im nächsten Schritt eine Kupfermatritze hergestellt, die später als Vorlage in die Vinylpresse eingespannt wird. Diese Matritzen sind das Archiv eines Presswerks und deshalb seltene Sammlerstücke. Auch hier muss man präzise arbeiten – ein wenig Dreck in der Rille der Matritze kann die gesamte Pressung unbrauchbar machen.

Gepresst wird in einer gedrungenen Halle ohne Tageslicht. An den kahlen Ziegelsteinwänden hängen alte Plattencover, die Vinyl-Pressen stehen in zwei langen Reihen. In ihnen wird das in tonnenschweren Säcken angelieferte Vinyl zuerst zu einem Puck zusammengeschmolzen, dann mit Dampf erhitzt und schließlich zur fertigen Platte gepresst.

Bis zu 33 Vinyl-Pressen können bei Record Industry parallel laufen, jede kann täglich bis zu tausend Platten produzieren. Fällt eine von ihnen aus, müssen die Haustechniker eigene Ersatzteile herstellen, weil diese auf dem freien Markt nicht mehr erhältlich sind.

Während der gesamten Produktion wird die Qualität überprüft: Cover müssen mit den Vorlagen verglichen werden, Platten werden auf Pressfehler untersucht. Was bei Vinyl für Dancefloor-Produktionen noch leicht von der Hand geht, weil ein springender Loop leicht zu hören ist, kann bei einer Rockplatte schon mal in Sisyphosarbeit ausarten, wenn im Feedbacklärm nach Übersteuerungen gesucht werden muss.

Ist der Fehler gefunden, geht es auf Ursachenforschung. Ist das Dubplate fehlerhaft, die Matritze oder ist schon der Mix unsauber?

Aura des Liebhaberstücks

So bekommt die fordistische Vinylschallplatte zwanzig Jahre nach ihrem Tod als Massenmedium eine neue Aura spendiert – die des handgemachten Liebhaberstücks.

„Vinyl hört man zu Hause, wenn man sich auf die Musik konzentrieren will“, meint Michiel Kusters von „Music-on-Vinyl“. Wobei weniger die Musik als die Konzentration entscheidend ist. Nicht umsonst ist eine Renaissance des Vinylsammelns gerade bei denjenigen zu beobachten, die am liebsten neokrautige Drones oder lange Jazzsessions hören, von Musik also, die ein Maximum an Nichtablenkung verlangt.

Und genau das bietet Vinyl. Kein Instant Messenger, keine E-Mail stören beim Hören. Schriftzüge, Covertexte und Innenhülle forcieren eine Form von „close reading“, die man bis zum philologischen Exzess vorantreiben kann. Ist Vinyl also das neue „gute Buch“ und damit eher Kontemplation anstatt Kommunikation? Das wäre zu kurz gedacht. Plattensammeln ist eine sehr gesellige Angelegenheit, im Plattenladen oder auf Flohmärkten läuft man sich über den Weg. Es ist halt nur ein wenig langwieriger, als einen Stream bei Soundcloud zu kommentieren.

Das wirklich Schöne daran ist aber, dass diese Langwierigkeit nicht als „nachhaltiger Konsum“ umgedeutet werden kann. Selbst hartgesottene Plattensammler müssen zugeben, dass es weder ökonomisch noch ökologisch sonderlich effizient ist, Musik auf einen mit Öl hergestellten Tonträger zu pressen, der dann um die halbe Welt verschifft wird. Musik kaufen und hören ist Luxus, und Vinyl macht ihn nur verschwenderischer.

www.recordstoreday.de