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Archiv-Artikel

„Es ist überhaupt nicht sicher, dass es tatsächlich Neuwahlen gibt“

Der Verfassungsrechtler Ingo von Münch kritisiert: Rot-Grün habe den Visa-Ausschuss „in Rambo-Manier“ abgebrochen. Wenn Gerhard Schröder Wahlen will, soll er zurücktreten

taz: Rot-Grün hat die geplanten Neuwahlen zum Anlass genommen, den lästigen Visa-Untersuchungsausschuss zu beenden. Die Opposition will diese Woche dagegen in Karlsruhe klagen. Zu Recht?

Ingo von Münch: Eindeutig ja. Die Regierungsmehrheit hat die Arbeit des Ausschusses in Rambo-Manier abgebrochen und damit die Rechte der Minderheit verletzt.

Soll der Visa-Ausschuss die Neuwahlen einfach ignorieren?

Es ist doch überhaupt nicht sicher, dass es tatsächlich Neuwahlen gibt. Noch ist unklar, wie das Vertrauensvotum am 1. Juli ausgeht und ob das Vorgehen zulässig ist. Ja, man weiß noch nicht einmal, was der Kanzler konkret vorhat.

Wie man hört, sollen sich die Minister, die zugleich Abgeordnete sind, bei der Vertrauensfrage der Stimme enthalten. Halten Sie das für zulässig?

Der Ausgang einer Vertrauensabstimmung darf nicht inszeniert werden, eine Vertrauenskrise darf nicht vorgetäuscht werden. Das verstößt gegen das Grundgesetz und untergräbt auch die Glaubwürdigkeit der Politik.

Es ist also letztlich egal, wer konkret sich dabei aus taktischen Gründen der Stimme enthält, ob Minister oder einfache Abgeordnete?

Ja. Bei Ministern ist es aber besonders problematisch, denn diese sind als Kabinettsmitglieder ja vom Kanzler abhängig, der sie auch entlassen könnte.

Der Kanzler könnte das Stimmverhalten der Minister aber nicht offiziell anweisen?

Nein, als Abgeordnete sind die Minister laut Grundgesetz unabhängig.

Der Kanzler sagt, die Vertrauenskrise sei nicht inszeniert, er wünsche Neuwahlen aus Angst vor Erpressungsmanövern aus dem rot-grünen Lager …

Das hat er wohl dem Bundespräsidenten gesagt, die Öffentlichkeit hat eine solche Erklärung bisher aber noch nicht gehört.

Genügt es nicht, wenn Schröder eine solche Erklärung am 1. Juli im Bundestag abgibt?

Rechtlich genügt das. Aber es ist ein Gebot politischer Transparenz, in einer so wichtigen Frage nicht wochenlang Schleiertänze zu veranstalten.

Manche kritisieren auch, dass Bundespräsident Köhler von den Neuwahl-Plänen erst informiert wurde, nachdem SPD-Parteichef Müntefering den Coup öffentlich angekündigt hatte …

Juristisch war das nicht verboten. Aber politisch ist so etwas ein absolut miserabler Stil.

Bundespräsident Köhler muss nach dem 1. Juli prüfen, ob er den Bundestag auflöst oder nicht. Ist er dabei innerlich frei genug, wenn er jetzt schon Sondierungsgespräche mit dem Kanzler führt?

Es geht hier nicht um Verhandlungen oder gar Geklüngel. Der Bundespräsident hört sich die Pläne und Ansichten der Beteiligten an, damit er nach dem 1. Juli bei Bedarf gut vorbereitet ist. Er sollte im Vorfeld allerdings mit allen im Bundestag vertretenen Parteien sprechen.

Der Ruf nach einer Grundgesetzänderung wird lauter. Der Bundestag soll sich selbst auflösen können, damit solche Inszenierungen künftig nicht mehr nötig sind. Eine gute Idee?

Nein. Wir sollten die geltende Regelung, dass der Bundestag nur bei einer echten Vertrauenskrise aufgelöst werden darf, beibehalten. Damit sind wir mehr als fünfzig Jahre lang gut gefahren. Ein Schnellschuss mit Wirkung für die laufende Legislaturperiode wäre sogar verfassungsrechtlich bedenklich.

Warum?

Weil so ermöglicht wird, die bestehenden Mandate der auf vier Jahre gewählten Abgeordneten zu verkürzen.

Sie sind gegen eine fingierte Vertrauenskrise und gegen eine Verfassungsänderung. Was schlagen Sie eigentlich vor?

Wenn der Kanzler eine Neuwahl will, sollte er persönlich Verantwortung übernehmen und zurücktreten – statt die Last dafür auf die Schultern von Abgeordneten und Ministern zu packen.

Der Kanzlerrücktritt führt aber nur dann zu Neuwahlen, wenn im Bundestag kein Nachfolger gewählt wird. Muss die rot-grüne Mehrheit dann nicht wieder tricksen?

Nicht unbedingt. Vielleicht bekäme der neue rot-grüne Kandidat einfach nicht genügend Stimmen – ohne dass dies inszeniert werden müsste. Vielleicht wird aber auch ein neuer Kanzler mit rot-grüner Mehrheit gewählt.

Dann gäbe es aber auch keine Auflösung des Bundestags. Wollen Sie keine Neuwahlen?

Doch. Ich bin für eine Neuwahl, aber nur wenn das Verfahren kein Schmierentheater ist.

INTERVIEW: CHRISTIAN RATH