Hingehen, wo es wirklich wohl tut

Stadiontauglichkeit! US-Tauglichkeit! Tauglichkeit in Sachen melodischer Rock! Die Erwartungshaltungen waren hoch vorm neuen Coldplay-Album. Nun ist es draußen, und die Plattenfirma EMI sollte wohl gleich mal eine Gewinnwarnung herausgeben

Selbstbekritzelungen mit dem Edding haben sich überhaupt zum Erkennungsmerkmal gutherziger Stars entwickeltOffenherzig kopieren Coldplay andere Künstler wie Kraftwerk. Heimlich aber kopieren sie sich selbst

VON ARNO FRANK

Was für einen Konzern wie Volkswagen ein neuer Golf, das ist für einen Konzern wie die EMI eine neue Coldplay. Von ihrem Debüt „Parachutes“ wurden fünf, vom Nachfolger mit dem schönen Titel „A Rush Of Blood To The Head“ schon zehn Millionen Exemplare verkauft. Demnach dürfte das dritte Album des britischen Quartetts locker die magische Marke von zwanzig Millionen Einheiten nehmen – so das Kalkül der Plattenfirma, die „X & Y“ schon fest fürs Weihnachtsgeschäft 2004 eingeplant hatte. Chris Martin, 28, Chef der Gruppe, heizte die Erwartungen zusätzlich an und verkündete noch im Sommer, man werde mit der neuen Platte wohl „das Rad neu erfinden“. So was braucht natürlich seine Zeit, und als klar geworden war, dass es mit dem Weihnachtsgeschäft nichts werden würde, da musste die EMI an ihre vorfreudigen Aktionäre sogar eine Gewinnwarnung herausgeben. Erst jetzt ist das viel begackerte Ei weltweit käuflich zu erwerben.

Coldplay war, für alle Beteiligten und von Anfang an, Segen und Rätsel zugleich. Noch vor fünf Jahren hätte niemand geglaubt, dass mit der feingliedrigen Melancholie einer Platte wie „Parachutes“ mehr als ein Achtungserfolg zu erzielen wäre.

Okay, eine hübsche Sammlung mollgetränkter Melodien war das, vorgetragen von der verletzlichen Stimme eines rehäugigen Sängers, der die Vermittlung von Trost und Hoffnung ins Zentrum seines Vortrags stellte. Wie beschissen es dir da draußen auch gehen mag, hey, Fallschirme („Parachutes“) bremsen deinen freien Fall, keine Panik („Don’t Panic“), wir bleiben uns treu („We Never Change“), noch ist nichts verloren („Everything’s Not Lost“), wir machen das alles nur für dich („For You“), und eigentlich leben wir doch alle in einer verdammt schönen Welt („Beautiful World“).

Derlei lyrischer Seelenkleister wird im Pop am Fließband produziert. Coldplay aber brachten erstens ihre verschmuste Beschwichtigungsmusik mit einer kongenialen Bescheidenheit zum Vortrag, die sich angenehm vom selbstbewussten Lärmen à la Oasis unterschied. Und zweitens gelang Chris Martin mit seiner Wir-haben-das-alles-doch-nicht-wirklich-verdient-Attitüde die handstreichartige Eroberung des US-Marktes.

Das mag zwar öde klingen, nach Bilanzen und Investitionen, bedeutet aber im Musikgeschäft den finalen Durchbruch und in der Ikonografie des Pop die höheren Weihen einer wahrhaft weltumspannenden Präsenz. Höher hinaus geht’s nicht. Erstmals hatten das die Beatles geschafft, in den Siebzigern schafften es Led Zeppelin, Pink Floyd oder Rod Stewart, der diesem Karrieresprung mit „Atlantic Crossing“ auch gleich ein musikalisches Denkmal setzte, in den Achtzigern dann U2 – und das war’s. Oasis? Blieben irgendwo in den Weiten des Mittleren Westens stecken. Sogar ein Talent wie Robbie Williams scheiterte buchstäblich mit Pauken und Trompeten: „Swing When You’re Winning“ sollte das US-Publikum erweichen, mit Anleihen bei Sinatra und einem Duett mit Nicole Kidman. Es nutzte alles nichts, und der Clown Williams hat sich bis heute nicht von dieser Zurückweisung erholt. Es lag nicht daran, dass die Amerikaner diesen anzüglichen Lümmel nicht mochten. Es lag daran, dass sie Erbauliches wünschen. Und keine Ironie, bitte!

Womit wir wieder bei Coldplay wären, ihren stadiontauglichen Melodien, ihrer Vorliebe für U2 und R.E.M. und dem völlig ironiefreien Charme ihres Sängers, dessen Sorgen die eines Besitzstandswahrers sind. Ein Streber, der ganz authentisch die Sorgen von Bausparern teilt.

Statt eines augenzwinkernden Duetts mit einem Hollywood-Star machte Chris Martin übrigens gleich Nägel mit Köpfen – und heiratete Gwyneth Paltrow, ihr gemeinsames makrobiotisches Kochbuch ist ein Bestseller, der Name des gemeinsamen Kindes (Apple, wie süß!) ein Renner auf den Standesämtern.

Weil soziales Engagement dem Globalisierungs- und Weltbank-Kritiker Chris Martin nicht wirklich ins gepflegt unrasierte Gesicht geschrieben steht, kritzelt er sich eben die Worte „Fair Trade“ mit Edding auf die Hand.

Überhaupt hat sich die permanente pennälerhafte Selbstbekritzelung nach dem Vorbild eines Michael Stipe zum Erkennungsmerkmal gutherziger Stars entwickelt – es ist so herrlich casual (geht schnell!), subversiv (geht bei TV-Auftritten!) und vor allem jederzeit abwaschbar.

Bei solch einer Überfrachtung mit musikfernen Zeichen wundert es nicht, dass die Gruppe selbst reichlich blass bleibt. Und dass, nach dem Überraschungserfolg mit „Parachutes“ und der Konsolidierung mit „A Rush Of Blood To The Head“, die dritte Platte ein echtes Problem darstellte. Wohin sollte es gehen? Künstlerisches Wachstum! Das Rad – respektive sich selbst – hatte eine andere Band schon einmal neu erfunden, eine Band, ohne die Coldplay nicht zu denken wäre und Chris Martin seine Gwyneth höchstens im Kino zu Gesicht bekommen würde. Radiohead, genau.

Mit der Single „Creep“ kamen Radiohead plötzlich aus dem Nichts, wie Coldplay, erspielten sich hier und da einen gewissen Respekt – und stellten dann, völlig unerwartet, mit dem Album „OK Computer“ ein kolossales Denkmal in die Rocklandschaft, das noch heute Schatten wirft. Das Leid, der Druck, das Pathos, die Dynamik, die Melodien, die Dramatik, die Verfremdung, der Gesang, die Komplexität, die Erlösung – alles also, womit „X & Y“ so geschickt wuchert, findet sich auf „OK Computer“ im üppigen Überfluss, im Original.

Fans wie Plattenfirma (auch EMI) wünschten sich daraufhin eine „OK Computer 2“. Dem Druck dieses rockistischen Anliegen entzogen sich Radiohead mit dem eigensinnigen, erratischen, elektronisch dominierten und wenig zugänglichen Album „Kid A“. Radiohead gelang es dabei nicht nur, kommerzielle Erwartungen dadurch zu unterwandern, indem sie sich künstlerisch übertrafen. Radiohead machten mit diesem radikalen Schwenk ins Experimentelle, mit dieser Verflüchtigung in die musikalische Freiheit vor allem den Weg frei für andere melodische Rockbands der Endneunziger, auch die mediokren, die das hinterlassene Vakuum füllen durften. Wie Muse. Wie Keane. Oder eben wie Coldplay.

„X & Y“ nun hätte ihr „Kid A“ sein können. Aus zwei ganz einfachen Gründen ist es nun nicht einmal ein „Parachutes 2“ geworden. Erstens wurde die Band von einer Plattenfirma zurückgepfiffen, die sich noch allzu gut an den „Kid A“-Schock erinnert.

Zweitens, und das wiegt schwerer, fehlt es Coldplay schlechterdings an Format.

Die Musiker haben, freimütig wie sie sind und bevor’s jeder merkt, ihre Einflüsse benannt: „White Shadows“ will nach Kraftwerk klingen, „Fix You“ basiert gleich ganz auf einem Sample aus Kraftwerks „Computerliebe“, dem alles Elektronische ausgetrieben wurde, „The Hardest Part“ will eine B-Seite von R.E.M. sein. So weit, so gut, so postmodern. Aber über die Single „Speed Of Light“ verbreitet der smarte Chris Martin, es orientiere sich an den Akkorden von Kate Bushs „Running Up That Hill“ – und verschweigt damit geflissentlich, dass „Speed Of Light“ kaum von „Clocks“ zu unterscheiden ist, einem Höhepunkt des zweiten Coldplay-Albums. Offenherzig kopieren Coldplay andere Künstler, klandestin kopieren sie sich selbst. Das ist clever. Was an originären Ideen noch übrig bleibt, ist längst in geschmacksverstärkter Keyboardsoße ertränkt.

„X & Y“ geht dahin, wo’s wirklich wohl tut. Und ist dabei so bejammernswert laaangweilig, dass selbst Liebhaber der Band gestehen, das Album nicht in einem Rutsch durchhören zu können, ohne dabei sanft wegzuschlummern. Es ist eben Musik für Menschen, die an Musik nicht glauben, und damit ideal für einen wachsenden Markt.

Die lange erwartete Single „Speed Of Sound“ übrigens wurde umgehend wieder von Platz 1 der UK-Charts verdrängt. Von „Crazy Frog“, einem billigen Handy-Klingelton im „Schni-Schna-Schnappi“-Stil. Glückwunsch!