Der Mann ohne Klasse

Gerhard Schröders Konturlosigkeit ist eine List der Geschichte. Es ist seine größte Stärke, die ihm zur Macht verhalf – und die größte Schwäche der SPD, die nun die Macht verliert

Die Löhne in Estland oder bald auch in Rumänien müssen steigen, damit unsere nicht sinken

Es ist schon eine Ironie der Geschichte: Ein Mann ohne historische Interessen, ohne politische Visionen und ohne gesellschaftlichen Gestaltungswillen möchte als Reformkanzler in die Geschichte eingehen. Der Pragmatiker Gerhard Schröder, dem der Weg das Ziel und der Machterhalt einziger Maßstab des Erfolges ist, baute die deutsche Gesellschaft um – allerdings nach Bauplänen, die weder von ihm noch von seiner Partei stammen. „Agent des Gegenwärtigen“ hat Richard Meng deshalb diesen Kanzler genannt, und es ist noch nicht ausgemacht, ob dies am Ende Stärke oder Schwäche gewesen sein wird.

Gerhard Schröder ist der erste Kanzler ohne historische Erinnerung und ohne ein Zugehörigkeitsgefühl zu Stand, Schicht oder Klasse, ein Mann ohne Eigenschaften.Was ihn antreibt, ist Erfolg pur, sein Maßstab der Aufstieg. Zwar wollte Schröder immer „da rein“, das Rütteln am Tor des Bonner Kanzleramtes hatte aber keinen anderen Zweck als das Ego eines Aufstiegsorientierten zu befriedigen. Das machte ihn beweglich in einer Gesellschaft, in der Beweglichkeit Trumpf ist und Bürgerlichkeit wie Sozialdemokratie nach 19. Jahrhundert klingen. Man muss nicht die neue Mitte, den Autokanzler und den Genossen der Bosse beschwören, um zu erkennen, dass Schröder näher bei den globalisierten Wirtschaftseliten ist als jeder sozialdemokratische Kanzler vor ihm.

Der Kanzler ist der fast perfekte Repräsentant einer neoliberalen Gesellschaft, die sich nicht nur ihrer sozialdemokratischen Inhalte, sondern auch mancher bürgerlichen Wertvorstellungen begeben hat. Das ist Schröders Stärke, die allerdings dort zur Schwäche wird, wo er auf Werte in Form sozialdemokratischer Traditionskompanien oder auf Geschichte in Gestalt auswärtiger Mitspieler stößt. So wenig es ihm gelungen ist, seine Entscheidungen in die Partei zu vermitteln und der Gesellschaft im Zusammenhang zu erläutern, so problematisch sind seine Ausflüge in historische Dimensionen, seien es nun Achsen oder die neu gewonnene deutsch-russische entente cordiale.

Schröder will oder kann nicht erklären, warum er Reformen für notwendig und eine Veränderung der außenpolitischen Prioritäten für sinnvoll hält. Doch das wäre notwendig, um auf Dauer die Lufthoheit über den Stammtischen zu erringen. Und selbst da, wo die Stammtische ihm zu folgen bereit waren, im Irakkrieg, hat er nicht geschichtspolitisch, sondern nur mit Optionen argumentiert, opportunistisch, nicht philosophisch. Deshalb mag es sein, dass am Ende das Land Tritt fast, die Wähler aber wegbleiben, da weder das Erklärungsbedürfnis der Wähler noch die Seele der SPD befriedigt werden.

Gerade die von den Umständen erzwungene Konstellation, dass diese Partei des demokratischen Sozialismus das größte Paket liberaler Reformen und sozialer Einschnitte auf den Weg bringen musste, konnte wohl nur ein Mann meistern, dessen Überzeugungen in beiderlei Richtung schwach ausgebildet sind und der in machtpolitischen Optionen und weniger in wertgebundenen Strategien denkt. Möglicherweise ist gerade Schröders Konturlosigkeit in dieser Situation eine List der Geschichte, um das durchzusetzen, was ohne Verwerfungen möglich ist. Was ihm dabei fehlt, sind die großen Geister, die aus seiner Politik eine konsistente, ja sogar noch eine sozialdemokratische Politik formen konnten. Daran kann Schröder am Ende scheitern.

Helfen der SPD nun also klassenkämpferische Töne? Skepsis ist angebracht. Doch Franz Münteferings herbe Worte richteten sich ja weniger gegen die Kapitalisten als gegen das Kapital, also nicht gegen das menschlich Schlechte, sondern gegen das politisch Unvernünftige. Nehmen wir einmal den Fall Ackermann aus, so verdammen Müntefering und seine Genossen nicht den einzelnen Kapitalisten, sondern eine Ordnung, in der der Einzelne gar nicht anders kann, als mit den Wölfen zu heulen, da er sonst selbst gefressen wird.

Ziel des Kapitals ist die größtmögliche Rendite, Ziel des Staates muss sein, diese Rendite zu senken

Nun mag man die Wortwahl nicht für glücklich oder gar pädagogisch halten, das Dilemma, in dem wir uns seit dem Zusammenbruch des Ostblocks befinden, beschreiben Münteferings Worte korrekt. Da sind auf der einen Seite die vielen neuen Arbeitskräfte östlich von Oder und Neiße, je östlicher, um so billiger, und auf der anderen Seite Unternehmer, die nach Möglichkeiten suchen, billiger zu produzieren, weil wir alle als Konsumenten billiger kaufen möchten.

Zwei Antworten halten die Roland Bergers und Hans Werner Sinns bereit: Die eine lautet schlicht, die Deutschen müssen sich mehr anstrengen für weniger Geld. Das klingt zynisch, trifft aber genau die Situation am Markt für Arbeit. Nur, dass der Vorschlag keine Antwort auf die Frage gibt, wie mit weniger Geld mehr Konsum angeregt werden soll und wo das „weniger Verdienen“ endet, ohne dass ein menschenwürdiges Leben unmöglich wird.

Ergänzt wird diese Variante durch den Verweis auf Forschung, also die Entwicklung intelligenterer Produkte, die von klugen Köpfen auch für hohe Löhne produziert werden können. Doch immer dann, wenn Wissenschaft und Forschung als Jobmotor herhalten müssen, gerät aus dem Blick, dass die gering bezahlten Handlanger und einfachen Arbeiter davon nichts haben, da sie für diese intelligente Produktion weder bildungsfähig noch bildungswillig genug sind. Selbst wenn also ein Weißkittelboom ungeahnten Ausmaßes durch höhere Forschungs- und Entwicklungsausgaben zustande käme, würde das untere Drittel der arbeitenden oder arbeitslosen Bevölkerung davon nicht profitieren.

Passt es sich an die weltweit gezahlten Löhne an, kann es in Deutschland nicht davon leben, passt es sich nicht an, verliert es auch die schlecht bezahlte Arbeit noch und verschwindet in der Arbeitslosigkeit. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, dieser Kapitalmacht zu entkommen. Entweder der Staat erhöht die Löhne auf ein ausreichendes Niveau oder er blockiert die Globalisierung, wenn auch unvollkommen, dort wo es ihm möglich ist, also bei der politischen Mitbestimmung über EU-Beiträge, bei Steuern und Arbeitsbedingungen in EU-Staaten oder Beitrittskandidaten. Ziel muss sein, dass die Löhne in Estland oder bald auch in Rumänien steigen, damit unsere nicht sinken müssen.

Das französische „Nein“ zur europäischen Verfassung weist in diese Richtung. Ziel des Kapitals ist die größtmögliche Rendite, Ziel des Staates muss es sein, diese Rendite zu senken, nicht nur bei uns, sondern überall, wo unser politischer Einfluss hinreicht. Denn sollte sich weltweit die soziale Schraube nach unten drehen, wäre das Ergebnis nur, dass sich auf Dauer immer weniger Menschen die Produkte leisten können, mit denen Deutschland weltweit heute sein Geld verdient. Auf diese Weise das Kapital zu zivilisieren, wäre allerdings teuer erkauft. Franz Müntefering hat schon Recht: Die international wachsende Macht des Kapitals bedarf der Gegengewichte, entweder einer neuen internationalen Macht der Arbeit oder der gemeinsamen politischen Anstrengung der Nationalstaaten.

Münteferings Worte mag man für unglücklich halten, unser Dilemma beschreiben sie korrekt

Klassenkampf ist das noch nicht, bestimmt aber Kapitalismuskritik in dem Sinne, in dem auch Johannes Paul II. das Kapital kritisiert hat, nämlich dass es sich selbst überlassen zu viele Menschen außen vorlässt. Doch genau diesen sozialdemokratischen Sinnzusammenhang vermochte der Kanzler nicht deutlich zu machen. Zu oft wechselte er die Seiten, zu lange war er der Genosse der Bosse, der die Unternehmensteuern senkte, um glaubwürdig gegenüber dem sozialdemokratischen Milieu jene Korrekturen zu vertreten, die Lafontaine als Kapitulation vor den Herrschenden, als Umverteilung von unten nach oben wider die ökonomische Vernunft und den alten Lord Keynes verteufelt.

Was den „Mann ohne Eigenschaften“ zu Beginn des Reformprogramms stark machte, hat ihn im Verlaufe seiner Durchsetzung geschwächt – das Fehlen einer sozialdemokratischen Seele. Denn nur wenn die Arbeiter an Rhein und Ruhr verstanden hätten, dass die Reformen zwingend notwendig sind, gerade um nicht mit ukrainischen Löhnen leben zu müssen, hätte er auf die hinter allem lauernde Frage: Wie weit soll es denn noch nach unten gehen?, eine realistische Antwort finden müssen. So muss jetzt die CDU den Versuch machen, den neu gewonnenen Arbeiter- und Arbeitslosenwählern eine Politik anzubieten, die glaubhaft das Ende des Abstiegs verheißt. Gelingt das nicht, schlägt die Stunde der Populisten. ALEXANDER GAULAND