: Der schwarze Peter wohnt nicht in Brüssel
Die Abgeordneten des EU-Parlaments wehren sich gegen Vorwürfe, die Brüsseler Entscheidungen seien der Hauptgrund für die aktuelle Verfassungskrise. Sie fordern mehr Transparenz und Mitwirkung des Parlaments. Zustimmung bei Etatvorschlägen
AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER
„Schluss mit dem Blame-Game!“ Zu deutsch: Hört auf, Brüssel den schwarzen Peter in die Schuhe zu schieben! In dieser Forderung waren sich gestern im Europaparlament Vertreter fast aller Parteien einig. „Wenn Europa von Montag bis Samstag kritisiert wird, können wir dann erwarten, dass die Menschen Europa am Sonntag unterstützen?“, fragte Kommissionspräsident Barroso und erntete großen Beifall.
Dazu gehörte nicht viel, denn von den nationalen Regierungen, die das Blame-Game so gerne spielen, war als einziger Nicolas Schmit, dessen Land Luxemburg derzeit den Ratsvorsitz hat, im Plenum anwesend. Martin Schulz, Vorsitzender der sozialistischen Fraktion, hofft, dass das üble Spiel mit dem schwarzen Peter beim Gipfeltreffen nächste Woche endlich einmal zur Sprache käme. „Es ist doch ganz einfach: Sagen, was man tut, und tun, was man sagt“, riet Schulz den Regierungschefs.
Grünen-Sprecher Daniel Cohn-Bendit verlangte einen radikalen Bruch mit der Geheimniskrämerei: „Öffnen Sie die schwarze Schachtel! Lassen Sie den Rat am 16. und 17. Juni unter den Augen der Öffentlichkeit tagen! Die Menschen in Europa haben genug davon, dass ihnen hinterher in einer Pressekonferenz jeder Teilnehmer seine eigene Wahrheit erzählt!“ Auch Graham Watson, Vorsitzender der Liberalen, verlangte, dass zumindest, wenn Gesetze beraten und beschlossen werden, der Rat künftig öffentlich tagen müsse.
Mehr Transparenz, mehr Mitwirkung des EU-Parlaments – hinter dieser Forderung steht die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten. Bei der Frage, welcher Weg aus der Verfassungskrise führt, scheiden sich aber die Geister. Watson begrüßt die von Großbritannien ausgerufene Denkpause bei der Ratifizierung. Nicht ohne Genugtuung sagte er: „The German-Franco motor is clearly kaputt!“
Der konservative Abgeordnete Elmar Brok will nächstes Jahr unter österreichischer Präsidentschaft in einem offenen Konvent mit den Bürgern ins Gespräch kommen. Auch er plädiert für eine Denkpause, will aber am Verfassungstext festhalten. Die deutsch-französischen Alleingänge der Vergangenheit würdigte er mit dem Seitenhieb, dass eine neue Regierung in Berlin dafür sorgen werde, „dass Deutschland wieder auf der Seite der kleinen Länder steht“.
Der dänische Euroskeptiker Jens-Peter Bonde will ein aus Europagegnern und Europabefürwortern zusammengesetztes Gremium bilden und einen neuen Text erarbeiten. Ein Kooperationsabkommen soll den Nizza-Vertrag ersetzen, das wenige klare Spielregeln für die lose Zusammenarbeit der nationalen Regierungen festlegt. Cohn-Bendit möchte einen neuen Text, der den sozialen Bewegungen und den Globalisierungskritikern Rechnung trägt. Dem Konvent sollen Mitglieder des Sozial- und Wirtschaftsausschusses und der Zivilgesellschaft angehören.
Ein vielstimmiges Pfeifen im Wald war das gestern in Straßburg. Nach dem Motto: Wer noch debattiert, kann schließlich nicht tot sein, versuchten die Abgeordneten ihre Hauptsorge zu überspielen: dass nach Jahren sinkender Wahlbeteiligung die gescheiterte Verfassung das Parlament weiter an den Rand abdrängen könnte. Immerhin brachten die Abgeordneten bei ihrem Vorschlag zur Finanzplanung für die Jahre 2007 bis 2013 mit 426 Jastimmen eine Mehrheit zustande. Nützen wird das wenig. Für den Gipfel in der nächsten Woche hat Großbritannien sein Veto gegen alle Versuche angekündigt, den britischen Rabatt zu kürzen. Diesmal wird nicht das Blame-Game, sondern das Blair-Game in Europa gespielt.