Keiner hört mehr auf den Trommler

Franz Münteferings Macht bröselt. Der SPD-Parteichef gibt seinen Autoritätsverlust in der Partei auch offen zu: „Ich sitze mitten im Getümmel.“ Der Kanzler muss eingreifen, um die scharfe Kritik führender SPD-Politiker am Bundespräsidenten zu stoppen

VON LUKAS WALLRAFF
UND ULRIKE WINKELMANN

Anweisung an die Fotografen im Kanzleramt: Sie mögen doch bitte sitzen bleiben und dem Kanzler nicht entgegenstürmen. Der Platz um das Kanzlerpult herum soll frei bleiben. Warum hängen all die Deutschland-Flaggen da? Die Bodyguards, die sich gegenüber der wartenden Presse aufbauen, sehen aus, als hätten sie über Ohrenstöpsel die Anweisung „streng-tragische Miene“ bekommen.

Schröder wird doch nicht etwa zurücktreten? „Nichts ist unmöglich“, zitiert ein Journalist den Auto-Werbespruch, der seit der Neuwahlankündigung am 22. Mai eine Art ironischer Dauerwitz geworden ist im Regierungsviertel.

Nein, kein Rücktritt. Die Neuwahlen werden auch nicht vorgezogen. Der Kanzler kommt und sagt, er habe mit Bundespräsident Horst Köhler gesprochen. Er habe ihm seinen Plan mitgeteilt, wie er die Vertrauensfrage stellen will – ohne Sachfrage, nur zu seiner Person. Und dann kommt eine sehr, sehr scharfe Rüge an die eigenen Leute: „Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass es in einer politischen Ausnahmesituation zu unangemessenen Reaktionen und zu ausufernden Spekulationen kommt.“ Er erwarte „von den führenden Mitgliedern meiner Partei“, jeden Angriff auf Köhler „unverzüglich einzustellen“.

Dies hat vor Schröder zwar schon SPD-Partei- und Fraktionschef Franz Müntefering gesagt. Doch Müntefering hat am Abend zuvor auch im Fernsehen zugegeben, dass er unter Autoritätsverlust leide: In diesen schwierigen Zeiten sitze er „nicht oben drüber“, sondern „mitten im Getümmel“. Ein Chef, der zugibt, dass keiner auf ihn hört, macht einen Riesenfehler.

Mag sein, dass er dadurch sympathischer wird, aber Partei und Fraktion fragen gerade nicht nach nach dem Einfühlungsquotienten zwischen Münte und Presse. Sondern danach, wie sie Wahlkampf machen sollen, wenn bis zum 1. Juli und womöglich darüber hinaus unklar bleibt, ob Neuwahlen überhaupt stattfinden können und was man dem potenziellen Wähler außer der Agenda 2010 erzählen soll.

In einer offensichtlich panischen, aber konzertierten Aktion hatten daher die Vizechefs der Fraktion, Michael Müller, Gernot Erler und Ludwig Stiegler, beschlossen, ausgerechnet über den Bundespräsidenten herzufallen – über Horst Köhler, dessen Zustimmung der Kanzler für einen Neuwahlplan braucht. Köhler sei als Präsident nicht neutral genug. Köhlers CDU- und FDP-getreue Mitarbeiter hätten durchgestochen, dass Schröder im Bundespräsidialamt zugegeben habe, wegen der linken Agenda-2010-Kritiker Neuwahlen zu benötigen.

Vom „Erpressungspotenzial“ gerade der Linken sei die Rede gewesen, stand im Spiegel. Die schärfsten Worte dazu fand nun gerade kein Linker, sondern ein SPD-Rechter, der Abgeordnete Johannes Kahrs. Er bezeichnete Köhlers Handeln als „Schmierenkomödie der billigsten Art – aber der Mann ist eben so“.

Es ist nun fast egal, ob Müntefering diese Anti-Köhler-Guerilla mit eigenen Händen gebändigt hat oder hätte oder nicht. Vielleicht stimmt es ja, dass alle schon in dem Augenblick wieder den Mund hielten, als sie seinen Anruf bekamen. Aber wenn nun einmal alles gleichzeitig über die Nachrichtenagenturen läuft, weil die Ereignisse schneller sind als die Medien – dann hilft es nichts, dass Müntefering zugibt, er hat die Kontrolle verloren. Das macht es dann nur schlimmer. Dann sieht es so aus: Der Kanzler musste einschreiten und nicht nur der Bevölkerung, sondern auch der SPD erklären, was geht. Und was nicht.

Ob dies das einzige Mal bis zum 1. Juli bleibt, dass Schröder die Reißleine ziehen muss, weil Münteferings Macht bröselt? Die gescholtenen Köhler-Kritiker gaben sich gestern zunächst erleichtert: „Die Erklärung des Kanzlers beendet jetzt die vielfachen Spekulationen, wie es zu Neuwahlen kommen kann“, sagte Gernot Erler der taz. „Das beruhigt sehr wahrscheinlich die Lage in den nächsten Wochen.“ Kein Wort mehr über Köhler.

Hätte der Kanzler die Möglichkeit offen gehalten, die Vertrauensfrage mit einer Sachfrage – etwa der heiß umstrittenen Unternehmensteuerreform – zu verbinden, wäre ein „Nein“ von den Linken erwartet worden. So hätten Erler, Stiegler, Müller und die anderen Linken nur bestätigt, was sie so verzweifelt bestreiten: Sie seien Hauptschuldige am ganzen Neuwahl-Debakel. „Es wird eine politikneutrale Entscheidung geben. Der SPD-Linken die Schuld zuzuweisen geht jetzt gar nicht mehr. Das ist für uns erfreulich“, sagte Erler.

Zweifelhaft, dass er Recht behält – wird doch von der SPD-Spitze mittlerweile die Verantwortung zu mindest gleichen Teilen der Unions-Blockade im Bundesrat wie den aufmüpfigen Agenda-Kritikern zugeteilt. Was Erler weiter von sich weist: „Die SPD-Linke lässt sich an Konstruktivität von keiner anderen Strömung überbieten.“

Es ist in der Tat die SPD-Linke, die derzeit am lautesten nach Wahlkampfinhalten verlangt, die wahlweise „ergänzend“ oder „korrigierend“ oder einfach nur „zusätzlich“ zu den Agenda-2010-Themen aufgebaut werden sollen. „Ich bin mir völlig sicher, dass die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung zu einer entscheidenden Botschaft im sozialpolitischen Teil unseres Wahlprogramms wird“, sagte Erler. „Gerade im Bereich der Gesundheitspolitik suchen wir die Konfrontation mit den neoliberalen Konzepten der Union.“

Die anderen als Neuwahl-Schuldige und Kanzler-Stürzer Angeklagten, die Grünen, gaben sich gestern gelassen. Die Befürchtung, dass Schröder versuchen würde, die Grünen als Ursache für Neuwahlentscheidung anzuführen, sei schon vorher „intern ausgeräumt“ worden, hieß es. Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck erklärte, was Schröder gesagt habe, „überrascht jetzt nicht wirklich“. Er sei ohnehin „davon ausgegangen, dass sich keine richtige Sachfrage anbietet“. Wie sich die Grünen bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage verhalten? „Das werden wir jetzt beraten.“ Die Erklärung des Kanzlers sei „zumindest das Signal, dass es kein Schwarze-Peter-Spiel geben soll“.

Die gegenseitigen Sticheleien zwischen SPD und Grünen gehen dennoch munter weiter. Grünen-Wahlkampfmanager Fritz Kuhn betonte die Verantwortung der SPD für das voraussichtliche vorzeitige Ende der amtierenden Regierung. „Hingeschmissen hat die SPD, weil der Kanzler seinen Laden nicht hinter sich hat“, sagte Kuhn.