: „Kein Schreckgespenst“
Der Autor Navid Kermani über Parallelgesellschaften, den Muslim als das personalisierte Fremde und Mallorca-Deutsche mit Hang zur Ghettoisierung
INTERVIEW NATALIE WIESMANN
taz: Kaum ein Begriff löst in Deutschland mehr Ängste aus als die Parallelgesellschaft. Warum ist das so?
Navid Kermani: Vielleicht hängt das mit der spezifischen Geschichte Deutschlands als verspäteter Nation zusammen, dass man hier so auf Gleichheit bedacht ist und mehr Schwierigkeiten hat, Unterschiede, auch unterschiedliche Sprachen, Ethnien und Traditionen einfach hinzunehmen.
Was verbinden Sie mit dem Begriff Parallelgesellschaften?
Es ist für mich selbstverständlich, dass eine Gesellschaft sich in Parallelgesellschaften gliedert. In der iranischen Stadt Isfahan, wo meine Eltern herkommen, gibt es fünf Religionen und vier Sprachen. Da ist es völlig normal, dass die einen Persisch und die anderen Armenisch sprechen. Wenn man sich die Nationen auf der Welt anschaut und auch die europäische Geschichte bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein, ist Einsprachigkeit eher der Ausnahmefall.
Sind Parallelgesellschaften also völlig unproblematisch?
Dass ich Parallelgesellschaften grundsätzlich nicht als Schreckgespenst sehe, bedeutet nicht, dass eine segregierte Gesellschaft keine Probleme schafft. Die Situation, dass ein ausländisches Kind eingeschult wird und kein Deutsch kann, ist schwierig für das Kind. Wenn 15 Kinder in die gleiche Klasse eingeschult werden, ohne Deutsch zu beherrschen, ist es auch schwierig für die übrigen 15. Auch demokratische Partizipation braucht eine gemeinsame Verkehrssprache. Einwanderung führt aber immer zu Parallelgesellschaften, und in Amerika nimmt das viel extremere Ausmaße an als hier. Das ist normal. Die Frage ist: An welchen Punkten wird es problematisch? Man sollte die realen, praktischen Probleme weder multikulturell wegdenken noch ideologisch überfrachten.
Soziologen halten den Begriff der Parallelgesellschaft für ideologisch überfrachtet. Würde er durch ‚Subkultur‘ ersetzt, wäre er mit weniger negativen Konnotationen behaftet.
Das stimmt. Ich lebe in einem solchen Viertel in Köln, in dem viele Migranten leben und fühle mich da sehr wohl. Aber ich selbst gehöre fünf verschiedenen Subkulturen an, zu denen mein Nachbar zum Beispiel keinen Zugang hat. Ich bin als Arztkind in einem Mittelstandsviertel in Siegen aufgewachsen. Ich habe mit den türkischen Arbeitern im Teehaus nebenan weniger gemeinsam als mit einem deutschen Mittelstandskind. Mit den Deutschen aus der Eckkneipe habe ich genausowenig zu tun. Aber nicht nur ich. Keiner aus meiner Kneipe hat mit denen aus der Eckkneipe oder dem aus dem Teehaus etwas zu tun. Es sind parallele Welten. So what?
Alles eine Sache der Schicht?
Das liegt doch auf der Hand. Iraner gelten hierzulande als die Einwanderer, die am besten integriert sind. Das liegt nicht daran, dass sie besonders intelligent oder anpassungsfähig sind, sondern dass die meisten von ihnen aus den städtischen Mittelschichten eingewandert sind. Wenn die Mehrzahl der türkischen Einwanderer Angehörige des Bürgertums von Istanbul oder Ankara gewesen wären, sähe die Lage anders aus.
In Düsseldorf gibt es ein Viertel, in dem Japaner leben, arbeiten und ausgehen. Warum wird das nicht problematisiert?
Das Fremde ist im Moment personalisiert durch den Muslim. Dass die italienischstämmigen Kinder nach Angaben vieler Ausländerbeauftragten größere Sprachprobleme haben als die türkischen, thematisiert kaum jemand. Außerdem haben die Deutschen selbst einen Hang zur Ghettoisierung, wenn sie im Ausland leben. Schauen Sie sich die deutschen Auswanderer in Lateinamerika oder auch in Mallorca an, die bleiben da nur unter sich. Sollen sie doch. Nur sollen dann nicht die gleichen Leute schimpfen über die Türken, die unter sich bleiben.
Sie haben in einem taz-Essay geschrieben: „Es gibt auch gute Muslime, die ihre Kinder auf die Montessori-Schule schicken.“ Ist das der deutsche Maßstab für Integration?
Als gute Muslime werden in der Tat jene empfunden, die sich von ihrer Religion oder Kultur lösen. Es gibt zur Zeit eine Menge von Bestsellern, in denen muslimische Frauen gegen den Islam kämpfen oder sich von der Familie befreien. In jedem Schimpfartikel des Spiegels tauchen gute muslimische Frauen auf, die gegen den Willen ihrer Brüder in Diskos gehen. Solche guten Muslime brauchen die Leute, die gegen den Islam wettern, damit sie sich nicht nachsagen lassen müssen, dass sie islamfeindlich sind. Wenn in meiner Gegenwart jemand eine ganze Volksgruppe beschimpft, mich aber davon ausnimmt, nach dem Motto ‚Dich meinen wir nicht‘, fühle ich mich alles andere als geehrt. Dann sage ich eher: ‚Den Onkel Tom gebe ich nicht.‘