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Archiv-Artikel

Migranten enttäuscht von Rot-Grün

Für viele Einwanderer ist Schwarz-Gelb keine Horrorvision. Sie fürchten aber die populistische rechte Rhetorik

BERLIN taz ■ Im Herbst, da sind sich die Umfrageinstitute derzeit einig, kommt eine schwarz-gelbe Bundesregierung. Eine Regierung unter Führung der Partei also, die sich noch immer dagegen sträubt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die gegen das Antidiskriminierungsgesetz polemisiert. Und den EU-Beitritt der Türkei am liebsten verhindern würde. Dennoch blicken die Migranten hierzulande gelassen auf die Wahl. Die meisten fürchten zwar eine schärfere Rhetorik, nicht aber eine Verschlechterung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Ihre Wahrnehmung allerdings hat wenig mit der CDU zu tun. Und viel mit der großen Enttäuschung über Rot-Grün.

„Noch schlechter kann es nicht werden“, sagt Hakki Keskin. Der Hamburger Hochschullehrer ist Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Deutschland (TGD), die 250 Mitgliedsvereine der größten Migrantengruppe vertritt. Vor der letzten Wahl hat die TGD noch empfohlen, Rot-Grün zu wählen. Doch von der Migrationspolitik der Regierung ist Keskin „bitter enttäuscht“. Besonders entsetzt ihn das neue Staatsangehörigkeitsrecht, das Mehrstaatlichkeit weitgehend untersagt. Weil 50.000 türkischstämmige Einwanderer nach ihrer Einbürgerung die türkische Staatsangehörigkeit wieder annahmen, haben sie jetzt ihren deutschen Pass verloren.

Safter Cinar, der Sprecher des Türkischen Bunds Berlin-Brandenburg (TBB) und Vorsitzender des Türkischen Elternvereins in der Hauptstadt ist, blickt der Bundestagswahl gelassen entgegen. Faktisch ändern werde sich nicht viel, meint auch er. Selbst das von der CDU massiv kritisierte Antidiskriminierungsgesetz werde kommen, wenn auch in einer abgespeckten Version. Schließlich ist das eine Vorgabe der EU. „Aber der Ton wird sich verschärfen“, befürchtet Cinar. Zwar werde es im Wahlkampf nicht unbedingt um Migration, bestimmt aber um den EU-Beitritt der Türkei gehen. „Da besteht natürlich die Gefahr, dass Ängste vor Türken und Muslimen geschürt werden.“

Auch Sanem Kleff, Leiterin des bundesweiten Projekts „Schule ohne Rassismus“, denkt vor allem mit Grauen an die Rhetorik der Union. „Der EU-Beitritt der Türkei wird im Wahlkampf sicher Thema sein“, sagt Kleff, die auch im Bundesvorstand der GEW aktiv ist. Das verletze die Migranten mit türkischem Hintergrund. „In ihrem Tun wird Schwarz-Gelb aber nicht restriktiver sein als Rot-Grün.“ Dennoch geht die Pädagogin türkischer Herkunft mit der jetzigen Bundesregierung nicht so hart ins Gericht wie andere Migranten: „Vielleicht werden wir rückblickend sehen, dass es unter Rot-Grün große kulturelle Veränderungen gab: Dass es überhaupt ein Zuwanderungsgesetz gibt, ist sehr wichtig – auch wenn weit mehr versprochen war.“

Kleff fürchtet aber vor allem das Versagen von Schwarz-Gelb bei der der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Dann könne „der Trend zu nationalen Lösungen und nationalistischen Einstellungen“ gehen. Darüber sorgt sich auch Witold Kaminski vom Polnischen Sozialrat, einer kleinen Beratungsstelle in Berlin. Er befürchtet, dass die Migranten dann zu Sündenböcken gemacht werden. „Die Union agiert oft sehr populistisch“, sagt Kaminski. „Das haben wir schon oft zu spüren bekommen.“

Diese Angst treibt auch die Palästinensische Gemeinde um. Ghassan abu Samra, der Vorsitzende der Berliner Organisation, befürchtet zudem, dass unter einer konservativen Regierung palästinensische Flüchtlinge, die zum Teil seit 15 Jahren in Deutschland geduldet werden, doch abgeschoben werden.SABINE AM ORDE