: Für die Ölquellen heulen
Werwölfe diskutieren über die Zukunft Russlands und versetzen die Menschen in Trance: Viktor Pelewin hat einen neuen Roman geschrieben, „Das heilige Buch des Werwolfs“. Eine Nacherzählung
VON WLADIMIR KAMINER
Zum Ende des Jahres hat der russische Schriftsteller Viktor Pelewin sein neues Werk veröffentlicht, mit dem Titel „Das heilige Buch des Werwolfs“. Der Autor ist in Russland sehr populär, die Kritik mag seine Bücher, weil sie sich wunderbar für Verrisse eignen, und die Leser verschlingen sie, weil Pelewins Geschichten für jeden Geschmack etwas bieten. Sie sind hochhumorvoll und tieftraurig, mit vielen Anekdoten, aber auch vielen Leichen gespickt, anspruchsvoll philosophisch, aber trotzdem spannend und zügig durchzulesen. Für mich haben sie außerdem noch eine andere Qualität: Pelewin ist für alle Veränderungen, die dem Land widerfahren, sehr empfindlich und bleibt immer am Ball – an der Realität des russischen Lebens.
Vier Jahre lang hat er nichts veröffentlicht. In einigen Interviews erklärte er, dass nicht zu schreiben für einen Schriftsteller genau so wichtig ist wie schreiben. Seine Botschaft ist nun angekommen: Es war nichts los. Dann erschienen aber gleich zwei Bücher nacheinander. In seinem letzten Werk, das bereits auf Deutsch veröffentlicht wurde – mit dem umständlichen Titel „Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin“ – ging es um Nichts. Das hat viele Leser verwirrt. Weil Pelewin sich selbst für irgendwelche Nebensächlichkeiten zu schade ist, geht es bei ihm immer um die Hauptsache.
In seinem neuen, noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman hat der Autor nun mit dem Nichts Frieden geschlossen: „Das heilige Buch des Werwolfs“ ist eine Gebrauchsanweisung fürs Überleben im Schwebezustand. Außerdem spricht Pelewin in diesem Buch noch ein anderes großes Problem unserer Zeit an, das nicht nur für Russland aktuell zu sein scheint: die Existenz der Werwölfe. Inzwischen haben auch die Russen die Janusköpfigkeit des Kapitalismus erkannt: privat ein großes Herz für Kinder haben, beruflich ein Halsabschneider unter Erwachsenen sein. Der zivilisierte Wolf spricht zuerst mit dem Hasen über die Gerechtigkeit und geißelt die soziale Kälte, bevor er ihn verputzt. Und dafür benötigt der Wolf die Fähigkeit, sich zu verwandeln.
Ich als großer Fan der traurigen Literatur aus Russland habe „Das heilige Buch des Werwolfs“ buchstäblich verschlungen. Meine Frau weigerte sich, es zu lesen. Ich fasse die Geschichte kurz zusammen, wohl wissend, dass ich damit dem zukünftigen Selbstleser den Spaß verderbe, aber ich kann nicht anders. Es geht darin um zwei Werwölfe. Der eine ist ein Fuchs und weiblich. Sie heißt Ahuli und arbeitet als Prostituierte in Moskau, obwohl sie keine wirklichen Geschlechtsorgane besitzt. Sie ist eine Jungfrau mit einem Fuchsschwanz, der sich augenblicklich von klein zu riesengroß entfalten kann. Als eine herausragende Gesprächspartnerin wird Ahuli von ihrer erlesenen Kundschaft hoch geschätzt. Sie kann über Finanzen, Kunst und Politik, Religion und Philosophie parlieren, obwohl sie keine eigenen Gedanken dafür braucht, nur ein gutes Gedächtnis. Als Fuchs erzählt sie den Leuten das, was sie von anderen gehört hat, und alle sind begeistert von ihrem Charme und ihrem Scharfsinn. Dann laden ihre Kunden den Werwolf aufs Zimmer ein. Sie verschwindet kurz im Badezimmer, befreit ihren Fuchsschwanz aus der Hose und benutzt ihn als Sender. Mit Hilfe dieses Schwanzes versetzt Ahuli ihre Kunden in Trance. Unter Hypnose haben die Kunden eine Vision – in der ihre verwegensten Träume wahr werden, sie vollziehen ihre Liebesspiele allein im Bett, wobei der Fuchs sich mit ihren Energien auflädt und anschließend noch Geld von ihnen dafür bekommt.
Wenn aber der Kunde zu früh aus dem Trancezustand erwacht, bleibt ihm das Herz stehen, oder er springt aus dem Fenster. Denn ein Mensch darf einen Werwolf nicht bei der Arbeit erblicken. In diesem Fall wird ihm statt eines schönen Traums eine nicht auszuhaltende Wahrheit über sein Leben zuteil, die kein Menschenherz erträgt. Doch die Mission des Werwolfs ist es, die Menschen zu verwirren, nicht, sie zu töten. Deswegen leidet er, wenn er einen Kunden auf diese Weise verliert.
Eines Tages lernt der Fuchs einen jungen Mann namens Alexander kennen, der sich nicht hypnotisieren lässt. Alexander ist Generalleutnant bei der Staatssicherheit und selbst ein Werwolf. Als solcher leitet er eine Werwolf-Abteilung des Dienstes, die eine wichtige Aufgabe zu erledigen hat. Im Auftrag der Regierung heulen die Werwölfe seiner Abteilung die Ölpipelines an. Jedes Mal, wenn der Druck in einer Ölleitung nachlässt, werden die Offiziere nach Sibirien geflogen. Dort betteln sie Mutter Erde an, ihnen noch ein wenig vom schwarzen Gold zu geben. Sie müssen das Herz der Erde erweichen. Das gelingt aber nicht jedem. Die meisten Offiziere können sich nur mit starken Drogen zur Verwandlung zwingen, dadurch verliert ihr Heulen an Glaubwürdigkeit, das Herz der Erde bleibt hart – und die Ölquelle versiegt. Der junge Werwolf Alexander kann sich jedoch verwandeln – immer wenn sein Land ihn ruft.
Als Generalleutnant und Patriot ist ihm die anarchistische Sicht von Ahuli zuwider, er verliebt sich aber trotzdem in sie. Beide Werwölfe diskutieren ausgiebig über das Schicksal Russlands. Sie vertreten dabei zwei entgegengesetzte Positionen. Alexander ist für einen starken Staat, Ahuli besteht auf persönlicher Freiheit. Beide wissen aber, dass sie der Welt der Werwölfe angehören. Und ihre Welt wartet bereits seit zweitausend Jahren auf den Erlöser, den Überwerwolf, der allen aus der Patsche helfen wird, wie es die alten Schriften prophezeien. Doch wer der Überwerwolf sein soll, verraten die alten Schriften nicht. Die progressive Ahuli hält die Erscheinung des Überwerwolfs für Unsinn, sie ist davon überzeugt, dass der Überwerwolf in jedem einfachen Werwolf steckt. Man muss nur seelische Vorarbeit leisten, um den Überwerwolf in sich zu entwickeln.
Der junge Generalleutnant Alexander glaubt dagegen an eine magische Verwandlung. Er nimmt an, dass der Stärkste zu einem Superwerwolf mutieren kann. Wer das sein wird, ist für ihn keine philosophische, sondern eine politische Frage. Ein Russe oder ein Amerikaner? Alexander hofft sehr, dass er selbst es sein wird. Ahuli lacht ihn aus. Sie streiten und lieben sich. Dann küssen sie sich.
Dabei verwandelt sich Alexander in einen kleinen schwarzen Hund mit fünf Beinen. Ein Schock für alle. Seine Karriere ist zu Ende, er kann nicht mehr heulen, er wird entlassen und bekommt sogar vorsichtshalber drei silberne Kugeln in den Bauch, die ihm jedoch nichts anhaben können.
Zum „Heiligen Buch des Werwolfs“ von Pelewin gehört auch ein Soundtrack: Mit einem Lied der holländischen Band Shocking Blue, dem alten Latinoschlager „Quizás“, mit dem Lied „Wolodja“, gespielt von einem Kollektiv aus Angola, mit einer russischen Romanze und außerdem noch drei Tracks aus dem Lieblingsfilm meiner Frau, einer chinesischen Serie namens „A Chinese Ghost Story“. Ich glaube, diese CD kann helfen, die Werwölfe auszuschalten. Deswegen möchte ich sie künftig während unserer Tanzveranstaltung Russendisko auflegen. Wir haben es dort ständig mit einem verwandlungsfähigen Publikum zu tun.