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Archiv-Artikel

Nüchterne Armee

GRUPPENMILITANZ Der Historiker Felix Schnell untersucht Massenmorde in der Ukraine vor 1933

„Jedermann in der Ukraine hat ein Gewehr und Munition – abgesehen von unseren Soldaten“, beklagte Leo Trotzki 1919. Dann begann er die Rote Armee aufzubauen. In den folgenden Jahren setzte sich die Rote Armee als erfolgreichste „militante Gruppe“ im russischen Bürgerkrieg gegen rechtsnationalistische Hetmanen, die „weißen“ Anhänger des Zarenreichs, ausländische Interventionstruppen, aber auch gegen anarchistisch angehauchte Bauernmilizen des Nestor Machno durch und konnte sich als Staatsmacht etablieren. „Rot“ gegen „Weiß“ gegen „Grün“. Alle ernährten ihren Krieg durch Ausplünderung der Landbevölkerung und mal mehr, mal weniger der Juden und anderer Minderheiten.

Mentaler Grundstein

So sieht es zumindest der Osteuropa-Historiker Felix Schnell, der nun seine Untersuchung zur Gruppenmilitanz in der Ukraine zwischen 1905, dem Jahr der ersten Russischen Revolution, und 1932/33, den Jahren der großen Hungersnot mit Millionen von Toten im Rahmen der von den Bolschewisten durchgesetzten Zwangskollektivierung, vorgelegt hat. Schnell meint beschreiben zu können, wie die mentalen Grundsteine für die Millionen Toten der Zwangskollektivierung und für die Millionen Toten des Holocaust auf dem Gebiet der heutigen Ukraine gelegt wurden. Doch wurde der Holocaust nicht in Berlin geplant und organisiert?

Schnell stellt seine Studie in den argumentativen Horizont von Timothy Snyders „Bloodlands“, der den ostmitteleuropäischen Raum zwischen 1933 und 1945 als einen einzigen Gewaltraum mit rund 14 Millionen Toten allein unter der Zivilbevölkerung beschreibt. Doch im Unterschied zu Snyder, der einen neuen Blick auf die sattsam bekannten Ereignisse mit der Kunst des kreativen Schreibens verbindet, legt Schnell eine fundierte und genaue Untersuchung vor. Man muss nicht seinen Prämissen und Schlussfolgerungen zustimmen, um in seinem Buch ein gehaltvolles wissenschaftliches Werk sowie ein „intellektuelles Abenteuer und Wagnis“ zu sehen.

Schnell geht es darum, die Gewalt der Akteure des russischen Bürgerkriegs „anders zu interpretieren, als es bisher der Fall gewesen ist“. Nicht mehr Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer oder ideologischer Ziele möchte er in den Mittelpunkt stellen, sondern zwei Begriffe werden bei ihm zentral: der „Gewaltraum“ und die „Gruppenmilitanz“. Anhand zahlreicher Quellen betrachtet Schnell die vielen Bauernaufstände am südwestlichen Rand des Zarenreichs und wie diese immer wieder sogenannte Atamane, „Anführer“ oder heute würde man „Warlords“ sagen, hervorbringen. Er entwickelt die inneren psychologischen Gründe, warum sich diese Aufstandsarmeen immer nach ihrem „Anführer“ nennen.

Er kann auch die vielen ambivalenten Seiten einer scheinbar sozialrevolutionären Gewalt „von unten“ sehen. „Es lebe die Sowjetmacht, nieder mit dem Kommunisten“ und dazu „Schlagt die Juden“, wie eine Quelle die Stimmung unter Machno-Truppen beschreibt. Alkohol ist ein ernstes Problem. Sehr wohl sieht Schnell die Bemühungen der Kommandeure, ihre Truppen in den Griff zu kriegen, aber ein Ausruf wie „Es lebe die nüchterne Aufstandsarmee des Führers Machno“ spricht Bände. Ausführlich beschreibt er die Pogrome gegen die meist städtische jüdische Bevölkerung, denen nach unterschiedlichen Schätzungen bis zu 250.000 Menschen zum Opfer fielen.

Alte Konfliktlinien

Entgegen der Ankündigung der Buchreihe kann Schnell wenig „Wege aus der Gewalt“ am konkreten Thema aufzeigen. Aber sein Blick auf die Ereignisse als scheinbar neutralen „Gewaltraum“ ermöglicht politisch heute allen Beteiligten, aus den alten Konfliktlinien und Rechnungen von Rache und Gegenrache auszusteigen. Insoweit ist Schnells Buch ein gelungenes Beispiel dafür, dass es beim jeweiligen Blick auf die Geschichte und der dazugehörenden Geschichtsschreibung meist um heutige politische Handlungsspielräume geht.

Etwas schwächelt die Argumentation von Schnell auch, wenn er sich fast metaphysisch an „Gewalt“ abarbeitet. Denn implizit geht es um die Durchsetzung eines staatlichen Gewaltmonopols gegen „Gruppenmilitanz“. Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine fanden die größten Gewaltverbrechen gegen die Zivilbevölkerung eben im Gewand des Staates statt.

CHRISTOPH VILLINGER

■ Felix Schnell: „Räume des Schreckens. Gewalträume und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905–1933“. Hamburger Edition, Hamburg 2012, 575 Seiten, 28 Euro