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Archiv-Artikel

Ende des flauen Behagens

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Bush in seinemungehemmten Tatendrang hat keine Ahnung vom Gewicht der WeltVergnügen über das Sonderangebot in Rostbratwürsten?Dabei steht schon der Tod ins Haus

Mehr als bei den vergangenen Wahlen ist diesmal Orientierungshilfe gefragt. Die Ungeduld mit Schröders Sprunghaftigkeit ist dafür ein Indikator, vielleicht sogar das erstaunliche Interesse am Weltbild eines erzkonservativen Papstes oder die europäische Endzeitstimmung nach den verlorenen Verfassungsreferenden. Wie können wir in Deutschland die Zukunft meistern? Woher soll neue Arbeit kommen? Was können wir eigentlich überhaupt noch? Die Grundlagen gesellschaftlichen Lebens sind heute dramatisch in Frage gestellt.

Der Tagesspiegel, 12. Juni 05

Die Inthronisation der Kanzlerkandidatin zeigte Züge biblischer Verkündigung, nicht wahr?

Die Gemeinde wusste es: Ja, jetzt kommt er endlich, der Aufschwung der Wirtschaft ebenso wie des Lebensgefühls, vor allem des Lebensgefühls. Er ist doch schon da! Jetzt fließt aus allen Ecken und Enden des Landes unwiderstehlich der gemeinsame Wille zur Erneuerung zusammen und verkörpert sich in einer weiblichen Gestalt, der nächsten Regierungschefin.

Sie zeigt leadership, wie man im Amerikanischen sagt und was schwer ins Deutsche zu übersetzen ist. Sie bewerkstelligt den Ruck, den einst der Bundespräsident Herzog beschwor und vor dem Deutschland so lange zurückschreckte unter dem Bann von Rot-Grün; ein kollektiver Sprung ins Glück, der schlagartig Selbstzweifel und Parteienstreit und Depression beseitigt …

Wir wissen es besser – das wird anders kommen, nämlich bald vorüber sein.

Er rührt sich doch bereits insgeheim, teils sogar offen, der Streit über die einschneidenden Maßnahmen, Erhöhung der Mehrwertsteuer, ja oder nein, Arbeitsmarktpolitik, Reform der Reformen. Falsche Kompromissbereitschaft, Unerfahrenheit, schlechte Beratung – solche Anwürfe verdunkeln die neue Lichterscheinung der Kanzlerkandidatin. Wenn sie dann im Herbst den Wahlsieg davonträgt, wird’s einfach so weitergehen wie jetzt, flau, müde, klagevoll.

Nein, es wird schlimmer kommen. Die Arbeitslosenzahlen steigen ungehemmt, die Konjunktur bricht wirklich ein, statt bloß zu lahmen. Eine schwere außenpolitische Krise – der Bürgerkrieg in Weißrussland – lehrt drastisch, dass die neue Regierung ihr Handwerk nicht beherrscht. Hektische und falsche Personalentscheidungen zeigen, was wir schon damals im Frühsommer, zu Zeiten der Euphorie sagten: dass Frau Merkel es nicht kann.

Sie vermag eine Partei, keineswegs aber die Bundesregierung zu leiten. Alle Hoffnungen auf leadership waren vergebens. Die Patzer der rot-grünen Regierung, seinerzeit ein Lieblingsthema der Opposition ebenso wie der Leitartikel und Leserbriefe, erscheinen demgegenüber im Rückblick als Randprobleme. Die Nostalgie verklärt Gerhard Schröder und Joschka Fischer bereits als große Staatsmänner.

Woher wissen wir, dass die Dinge schief laufen werden? Weil wir dem Pessimismus anhängen. Er ist keine Lehre wie Marxismus oder Surrealismus, vielmehr ein Lebensgefühl, gegen das weder Informationen noch Argumente helfen, das sich ebenso unwiderstehlich durchsetzt wie gerade noch die Merkel-Manie. Man kann ihm auch andere Namen geben.

Depression lautet ein klinischer. Eben meldeten die Psychotherapeuten, dass ihren Erfahrungen zufolge die Bewohner der Hauptstadt Berlin zunehmend zur D. neigen. Da konnten wir nur stumm nicken. Hatten wir das nicht schon immer gewusst?

Anspruchsvoller, edler klingt Melancholie. Sie ist weit mehr als ein emotionaler Zustand wie Angst oder Freude. Von alters her schreibt man ihr Erkenntniswert zu. Sie ist voll von kognitivem Gehalt: Nur wer die Dinge schwarz sieht, sieht sie richtig, und nur der Pessimist hat den vollen Durchblick. Alle anderen lassen sich täuschen, durch ihre Wünsche und Lüste und durch den schönen Schein, den die Welt immer wieder annimmt. Bekanntlich schreitet der Selbstmörder mit Vorliebe an strahlenden Sommertagen zu seiner Tat; ihn vermag das goldene Licht, die schimmernde Wasserfläche, der friedliche Biergarten nicht länger vom wahren Zustand der Welt abzulenken.

Klar, vom alltäglichen Pessimismus der Friseurin und des Taxifahrers, der Hausfrau und des Gymnasiallehrers führt kein gerader Weg zum Suizid mit philosophischer Aura. Aber auch die Normaldepression partizipiert an dem Erkenntnisgewinn, den die Melancholie von alters her verspricht und dem gegenüber sich jeder gut gelaunte Optimist als Bofke erweist. Wie beschränkt wirkt der amerikanische Präsident Bush in seinem ungehemmten Tatendrang, nicht wahr? Er hat keine Ahnung vom Gewicht der Welt. Und wenn sich die Kanzlerin unter dem Druck ihrer Misserfolge immer deutlicher in den Trauerkloß verwandelt, der sie oft genug schon gewesen ist, dann wissen wir: Sie gehört zu uns. Deshalb nehmen wir ihr die Misserfolge nicht übel. Schröder mit seinen schönen Anzügen und seiner virilen Selbstsicherheit wirkte doch immer wieder wie ein Ausbund von Manie und Realitätsverleugnung.

Seit alters üben diese Lehren über die Melancholie als höhere Erkenntnis einen mächtigen Einfluss aus. Ihnen hängt auch an, wer sie nie gelesen hat. Das ist schon in jede Normaldepression eingebaut, die Gewissheit, dass man jetzt endlich der Wahrheit nahe ist, der Wahrheit über die Welt ebenso wie der Wahrheit über die eigene Person. Sie ist vernichtend, diese Wahrheit. Aber dafür endet wenigstens der Zustand flauen Behagens, der Selbsttäuschung. Weg mit der rosa Brille!

Ich will nicht zu tief in die Bildungskiste greifen. Die Antike dachte sich den Charakter eines Menschen durch die Verteilung seiner Körpersäfte bestimmt. Der Melancholiker steht unter dem Einfluss der schwarzen Galle, was immer das sei. Vor allem aber meinten die Gelehrten herausgefunden zu haben, dass insbesondere das Genie – auf dem Feld der Philosophie, der Politik, der Kriegskunst – sich durch die melancholische Geistesverfassung auszeichne. Das Genie blickt, wie es seine Aufgabe ist, auf den Grund der Dinge, vor dem der Normalbürger zurückschreckt.

Und von dieser Einschätzung profitiert noch heute meine Nachbarin, die chronisch verstimmte Friseurin, wenn sie über die Miniermotte in den Kastanienbäumen klagt, von denen die Obrigkeit die ganze Zeit fälschlicherweise behauptet, das Ungeziefer lasse sich ausrotten. Dann klagt sie über den Benzinpreis, dass er unablässig steige, und jeden Autoausflug ins Umland verunmögliche in diesen Zeiten, wo jedem Hartz IV droht. Der alte Herr K., der trotz seiner Arthrose vergnügt zum Supermarkt humpelt, um das Sonderangebot in Rostbratwürsten wahrzunehmen, ist bloß zu beschränkt, seine eigene Lage zu erkennen, die unabweisbar und unwiderstehlich auf Verfall und Tod vorausdeutet.

Ich weiß genau, was die depressive Friseurin in einem Jahr über die neue Regierung sagen wird. Sie wird auch behaupten, sie habe es die ganze Zeit prophezeit, dass Frau M. es unmöglich schafft. Tiefe Befriedigung spricht aus ihrer schlechten Laune. Sie hatte sich nicht einmal kurzfristig die Hoffnung auf den Aufschwung, den Ruck, die Wende, den Neubeginn gegönnt.

Fotohinweis: Michael Rutschky lebt als Publizist in Berlin.