: Zerstören Sie Berlin!
THEATERTREFFEN Textgewitter auf dem Stückemarkt: In szenischen Lesungen werden neue Dramen ausprobiert
„Ich werde der Stadt den Krieg erklären, Majzahn“, schreit Jonas Jagow. „Ich werde mich bewaffnen mit Spucke und Benzin.“ So begann am Freitag der zweite Abend des Stückemarkts auf dem Theatertreffen 2012. Fünf AutorInnen boten auf diesem Markt im Foyer des Berliner Festspielhauses ihre neuen Stücke in szenischen Lesungen feil.
Den Freitagabend eröffnete der 1987 geborene Autor Michel Decar mit „Jonas Jagow“, einem Textgewitter. Im Singsang der Werbejingles sprechen die fünf DarstellerInnen die Imperative von Jagows wirrer Welt: „Zerstören Sie Ihre Stadt!“ – „Beleidigen Sie die Wasserwerke!“ – „Kneifen Sie Ihrer Schwester in den Po!“ An seinem großspurig verkündeten Plan, Berlin zu zerstören, scheitert Jagow, sodass die Erzählung dem wütenden Protagonisten in Gedanken- und Zeitsprüngen quer durch die Stadt hinterher jagen muss.
In der szenischen Lesung erscheint Jagow (sehr schön gesprochen von Sebastian Zimmler) allerdings eher kleinlaut. Die SprecherInnen sitzen, ihr Spiel ist aufs Minimum beschränkt. Die Szenen entwickeln ein solches Tempo, dass sie ab und an Schwierigkeiten haben, dem Monolog hinterherzukommen.
Mit Jagow durchqueren wir sämtliche Berliner Orte und begegnen den Helden und Antihelden unserer Zeit: Dem Hipster („Die Jungs sehen alle aus wie bärtige Eulen“), dem Arbeiter („Eine Wurst ist mir lieber als der globale Kapitalismus“), dem Kapitalismus („Alles hat ein Ende, nur ich hab keins“), Andreas Baader („Ich bin dagegen“), Moritz Bleibtreu („Bei uns ging es doch um was!“), Andritz Baadtreu („Wir hatten doch einen Grund“) und Tobias Moretti („Was mach ich denn hier?“). Fakt ist: Jagows Plan scheitert. Trotzdem wird ein Teil Berlins zerstört. Ein Asteroid schlägt überraschend an der Kreuzung Voxstraße/Ludwig-Beck-Straße ein.
Vielleicht die falsche Frage
Mit seiner Mischung aus Witz, Größenwahn und Poesie kratzt Michel Decar oft knapp am Kalauer vorbei. Historische und Science-Fiction-Szenen, Zitate, Dialoge im Bett und Monologe an der Bushaltestelle, fiktive und zeitgenössische Figuren vermischen sich im Dada-Sprech. Aber jede kleine Szene funktioniert. Decar gelingt eine atmosphärische Beschreibung einer aus den Fugen geratenen Gegenwart. Dabei schert sich der Autor weder um Tradition noch um Theorie. Ob die Chronologie für ihn eine Frage sei, fragte Christina Zintl vom Theatertreffen. „Das ist eine Frage“, antwortete Decar, dabei ist er ganz Jonas Jagow, „aber vielleicht die falsche.“
Das zweite Stück des Abends funktioniert ganz anders. „Fremde Körper“, verfasst von der polnischen Autorin Julia Holewiska, umkreist die Möglichkeiten des Einzelnen in der Gesellschaft. Politisches Theater also. Da ist die krebskranke Eva, die im heutigen Polen ihre Notdurft in einen Eimer verrichten muss, und da ist Adam, ein Solidarnosc-Dissident, der in den Achtzigern wegen systemkritischer Flugblätter in den Knast einfährt. Bald wird klar: Beide Figuren sind dieselbe Person – im Stück immer gegeneinander geschnitten.
Adam lebt nicht nur im falschen System, sondern auch im falschen Körper. Zwischen der Jetztzeit Evas und der Vergangenheit Adams liegen zwei Systemwechsel: das Ende des Kommunismus und die Geschlechtsangleichung des/der ProtagonistIn.
Das ist der doppelte Handlungsstrang, beide Figuren treten gleichzeitig auf, oft durch eine Glasscheibe getrennt. Die Miliz enttarnt Adam als Transsexuellen und erpresst ihn. Dann wird Adam zu Eva. Und sie geht beichten. „Wen um Gottes willen hast du getötet?“, fragt der Mann in der Soutane. „Ich musste mich töten“, antwortet Eva. „Mich töten, um zu leben.“ Einsam und als Fremdkörper im postkommunistischen Polen – „Das ist doch widerlich“, urteilt auch ihr Sohn –, stirbt sie schließlich.
Die Bildsprache des Stücks ist oft zu banal. Die gläubige Ehefrau von Adam, Maria, wendet sich von ihrem transsexuellen Mann ab. Adam, gespielt von Jana Schulz, tritt in Springerstiefeln und Punk-Outfit auf; die Eva spielt Matthias Bundschuh als fahrige Hausmutter mit flacher Brust. Die Mehrfachmarkierung des „Anderen“ ist zu viel.
Zwar ist es gut, dass das Stück eine persönliche Trans*-Geschichte aufgreift und gegen die politische Zäsur von 1989 stellt. „Das passt nicht zur großen Geschichte im öffentlichen Diskurs“, erklärt die Autorin Julia Holewiska im Gespräch. Allerdings behandelt das Stück das Thema zu oberflächlich, bleibt in den Klischees der Zweigeschlechtlichkeit stecken. So bleibt der „Fremde Körper“ Adams/Evas eine Allegorie des politischen Systems als Gefängnis. Das ist zu wenig. SONJA VOGEL