: 2012 – Odyssee im Weltaußenraum
ANTIKE In der globalisierten Welt scheinen Probleme wiederzukehren, die schon die griechische Polis prägten
VON SEBASTIAN KIRSCH
Als im letzten Jahr die Rettungsarbeiter in Fukushima dazu übergingen, Meerwasser in die überhitzten Reaktorräume zu leiten, kommentierte Alexander Kluge die ratlose Maßnahme mit den Worten, man suche nun offenbar bei Poseidon Aushilfe. Diese Assoziation mag zunächst etwas blumig wirken, doch tatsächlich könnte in ihr ein entscheidender Hinweis stecken – so gibt es etwa eine verblüffende Nähe zwischen den japanischen Ereignissen und dem griechischen Mythos von Herakles’ Säuberung der Augiasställe.
Um die Geschichte in Erinnerung zu rufen: Die gigantische Rinderherde des Augias, eine zentrale Fleischkammer der Antike und damit im Prinzip eine archaische Energieversorgungsanstalt, produzierte solche Unmengen an Kot, dass der Geruch um die ganze damalige Welt stank. Mykenes Herrscher Eurystheus wies Herakles darum an, die Ställe binnen eines Tages zu säubern. Nach einigen vergeblichen Angängen löste der Held den Fall auf die für ihn typische grobschlächtige Art: Er leitete zwei Flüsse um und ließ sie durch die Ställe fließen, sodass das Wasser die Kotmassen wegschwemmte und sich schließlich als verseuchte Drecksbrühe ins Meer ergoss.
Ersatzteillager für Körper
Aber Fukushima ist kein Einzelfall. Seltsamerweise kann man eine ganze Reihe vorwiegend technischer Probleme und Fragen, die heute als besonders drängend empfunden werden, auf griechische Mythen rückbeziehen. So lesen sich etwa die Versprechen der Biotechnologie, des Klonens und der nicht-sexuellen Reproduktionstechniken wie eine Aktualisierung „chthonischer“ Erzählungen, die von Alternativen zur geschlechtlichen Fortpflanzung berichten, zum Beispiel von Erdgeburten aus einer Saat von Drachenzähnen. Zugleich scheint die sich mit diesen Technologien am Horizont abzeichnende Möglichkeit, Ersatzteillager für Körper zu züchten, in Erzählungen wie denen von Idomeneus oder Alkestis vorgeprägt, in denen Todgeweihte andere Körper an ihrer Stelle sterben lassen können.
Selbst die europäische Finanzkrise führt bisweilen profane Varianten antiker Tragödien auf: Der Streit über die griechische Volksbefragung etwa erinnerte in wichtigen Aspekten an „Antigone“. Denn was auch immer an vergeblichem Machtkalkül und grobem Populismus hinter Papandreous Referendumsplan gesteckt haben mag – in dem Beschluss, dem Volk qua Befragung einen Platz einzuräumen, war etwas, das Antigones Anspruch ähnelte, gegen die Diktate einer vermeintlich praktischen Vernunft den toten Bruder nicht einfach vor den Toren der Stadt verfaulen zu lassen. Und wie bei Antigone barg auch die letztlich selbstmörderische Forderung Papandreous in sich etwas so Verrücktes und Unbedingtes, dass sie für die Logik des EU-Polis-Apparates und seiner Funktionäre unerträglich war.
Vielleicht kann man darum wirklich die These wagen, dass heute, in globalem Maßstab und gewandelter Form, Probleme wiederkehren, die schon im Prozess der antiken Polisgründung, am äußersten Rand des europäischen Gedächtnisses also, mit mythischen Geschichten bearbeitet wurden. Speziell ein Konflikt zwischen Stadt und Erdumwelt, der diese Erzählungen prägt, scheint heute erneut aufzutauchen – was insofern logisch ist, als wir, allen neuen Binnenkämpfen zum Trotz, deutlich in Zeiten einer globalen Polisgründung leben. Unser „Weltaußenraum“ wird nicht mehr von den Grenzen der Stadt definiert, schon gar nicht von den Grenzen des Mittelmeeres – das Monströse, Verschlingende lauert heute an den Grenzen der Welt selbst (wie Stanley Kubricks „Odyssee“-Adaption schon 1968 ahnte). Aber was könnte das für eine heutige Politik bedeuten?
Vermutlich war die griechische Polis zunächst nur eine Art zeitweiliger Behälter gegenüber einer Erdumwelt, die als eigentlicher Herkunftsort des Menschen galt. Schon in Sophokles’ „Antigone“ hat sich dieses Verhältnis deutlich gewandelt: Die Stadt erscheint jetzt als eine auf Dauer angelegte Befestigung gegen ein Draußen, das zur Wildnis geworden ist; sie trägt nun Züge einer kriegerischen Festung, die auf einen souveränen Herrn (Kreon) und dessen Freund-Feind-Politiken vereidigt ist. Damit ändert sich aber auch der Schwerpunkt der menschlichen Herkunft: In der gefestigten Polis ist man nicht mehr „Erdenkind“, sondern Sohn (oder Tochter) des väterlichen Herrschers. Mit anderen Worten: Was in der antiken Frontstellung von Polis und Erde auf dem Spiel steht, ist der Konflikt zwischen zwei verschiedenen und dennoch nicht voneinander ablösbaren Herkünften des Menschen. Die eine Herkunft ist die genealogische und geschlechtliche Abstammung im Sinn eines Stammbaumprinzips, von der Familie, oder eben, in der politischen Variante, vom jeweiligen Herrscherhaus. Die andere Herkunft hingegen zielt auf eine konstellative Gattungsherkunft. Sie ist allerdings ungleich schwerer zu artikulieren, da ihr, als Jenseits der Familiengeschichte, ein Moment absoluter Entzogenheit innewohnt.
Die Griechen hatten für diese Herkunft neben den Erdmythen etwa die Sprache der Sternzeichen und ihrer Konstellationen – also etwas, das uns schon lange nicht mehr zur Verfügung steht. Allerdings zeitigt dieser Verlust seit je fatale Folgen: Die Tatsache, dass wir kein Vokabular für die Gattungsherkunft mehr haben, hat zum einen die Degradierung von Umwelt und Umgebung zur nackten Verfügungsmasse bedingt, die unsere Technikgeschichte prägt. Und zum anderen wurde die Leerstelle regelmäßig mit neuen, antimodernen Ursprungsmythen aufgefüllt.
Noch die nationalsozialistische Rassenpolitik lässt sich als Versuch entziffern, eine zweite Herkunft des Menschen jenseits seiner familiären Geschichte zu formulieren, wobei hier das universelle Moment der Gattungsherkunft durch rassische Grenzziehung beseitigt und wieder unter das Stammbaummodell subsumiert wurde: Deswegen wurden Arierscheine ausgestellt und in jüdische Pässe die vereinheitlichten „Gattungsnamen“ Sarah und Israel gestempelt. Eine Trivialvariante der Psychoanalyse hingegen hat die Gattungsherkunft des Menschen zugunsten seiner familiären Abstammung übersehen; eine ebenso triviale Lesart der „antiödipalen“ Psychoanalysekritik Deleuzes und Guattaris hat die familiären Verhaftungen für sekundär oder gar für nichtig erklärt und sich in eine vermeintlich subversive Verherrlichung „rhizomatischer“ Lebensformen gesteigert, die sich nur zu gut den heutigen Vergesellschaftungsformen des Kapitalismus einpasst.
Vielleicht ist es heute wichtiger denn je, den antiken Widerstreit zwischen den beiden „Herkunftspolen“ neu zu formulieren, der wohl niemals endgültig zugunsten einer Seite zu entscheiden sein wird, wenn auch die Kräfteverhältnisse sich radikal verschieben können. So wird man überall dort, wo es um Institutionen geht, nicht umhin kommen, das Feld der Genealogie neu zu bearbeiten, in dem die Familie nur eine Unterform bildet: Wie lassen sich in den krisenhaften, zu Unternehmen verwandelten Institutionen Abfolgen von Älteren und Jüngeren, Lehrern und Schülern, Dozenten und Studenten neu organisieren? Es geht dabei um ein topologisches Spiel, um die Weitergabe und Übernahme von Plätzen (nicht von angeblich gesichertem Wissen). Andererseits aber sind die großen Fragen, die sich mit der „globalen Polis“ stellen, Gattungsfragen – neben den genannten Themen etwa Probleme wie der allgemeine Zugang zu Wasser, medizinischer Versorgung oder Bildung. Sie werden niemals auf der Ebene von Stammbaumgenealogien zu lösen sein, sondern verlangen einen ganz neuen Begriff generationaler Verantwortung.
Damit sind aber bestimmt nicht jene schon wieder diktatorisch anmutenden Reglementierungen des Alltags gemeint, die Zauberworte wie „Nachhaltigkeit“ mit sich bringen. Vielmehr geht es um Makroprobleme wie das des Atommülls, der noch in Tausenden von Jahren strahlen wird: Eine „Atomsemiotik“ sucht nach Möglichkeiten, etwaigen Lebewesen, die in 10.000 Jahren unwissentlich auf eines unserer Atomendlager stoßen könnten, Hinweise auf die drohende Gefahr zukommen zu lassen.
Unvorstellbarer Zeitraum
Das mag nach Science-Fiction klingen, schließlich geht es hier um die Suche nach einer Zeichensprache jenseits jeder absehbaren Institution, die ans Unmögliche, Unsagbare rührt – doch dahinter steht eine richtige Frage: Ist eine Form von Verantwortung denkbar, die einen unvorstellbaren Zeitraum überbrückt, einen Zeitraum, der jede Stammbaumgenealogie überschreitet? Aber man darf natürlich auch an kürzere Zeiträume denken: Wenn heute Unternehmen wie die Deutsche Bank durch Spekulationen gegen den Weizenpreis kurzfristige Gewinne einstreichen, wenn am Horn von Afrika Menschen verhungern, dann zeugt das von einer systemimmanenten, radikalen Vernachlässigung der Gattungsfrage, auf die dringend politische Antworten gefunden werden müssen. Wie diese genau aussehen können, steht zurzeit freilich in den Sternen. Oder gerade nicht in den Sternen – denn sicher ist, dass Figuren wie Herakles und Antigone diesmal nicht ausreichen werden.
■ Sebastian Kirsch ist Theaterwissenschaftler und Redakteur von Theater der Zeit