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Archiv-Artikel

Unheimlich sexy

Die Literaturwissenschaftlerin Elizabeth Boa verlor sich bei den Mosse-Lectures in pikanten Kafka-Stellen

Es ist doch so: Kafka ist toll, das Unheimliche bei Kafka ist erst recht toll (und vor allem total unheimlich). Elizabeth Boa hat sich darüber interessante Gedanken gemacht („Kafka: Gender, Class and Race in the Letters and Fiction“, Oxford 1996), und die Mosse Lectures an der Humboldt-Uni, bei denen die britische Professorin sie Mittwochabend vortrug, sind sowieso eine tolle Veranstaltungsreihe; die ersten beiden Vorlesungen zu Kafka haben wir hier auch übern grünen Klee gelobt (taz vom 21. 5. und 4. 6.).

Das waren jetzt ganz schön viele tolle Sachen in einem Satz, und man hatte sich auch sehr auf den Vortrag gefreut. Nur zusammen klappte das alles diesmal leider überhaupt nicht.

Möglicherweise hat Elizabeth Boa, Professorin in Nottingham, die Vorkenntnisse des deutschen Publikums einfach nicht richtig eingeschätzt. Dass es bei Kafka vor obszönen Details nur so wimmelt, das weiß man doch! Auch die Einschätzung, dass Kafkas Texte männliche Machtverhältnisse demaskieren, ist nicht neu. Und schließlich ist es geradezu eine Binsenweisheit, dass das Unheimliche als Symptom des Unbehagens in der Moderne gelesen werden kann. Das waren aber auch schon die Kernerkenntnisse des Abends.

Es blieb also bei einem kursorischen Einführungsvortrag. Immerhin war er gespickt mit einigen doppeldeutigen Details aus dem „Prozess“ und dem „Schloss“ – oder, wie Elizabeth Boa formulierte, mit „unheimlichen Schweinereien“. Was man nun noch gerne gehört hätte: Vertiefungen dieser Deutungen oder die Geschichte dieser Deutungen oder eine Einordnung dieser Deutungen in den Forschungsstand. Oder aber die Geschichte, wie Elizabeth Boa zu ihnen kam. Stattdessen ging der Vortrag immer zum nächsten Beispiel über.

Einen Moment wird man dennoch im Gedächtnis behalten. Das war der, als Elizabeth Boa das emphatische Bekenntnis ablegte: „Ich finde Kafkas Texte unglaublich sexy.“ Leider konnte sie nicht genau erklären, warum.

DIRK KNIPPHALS

Nächste Mosse-Lecture: Joseph Vogl über „Kafkas Komik“, 30. Juni, 19 Uhr