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: Sex nach Adorno

Volkmar Sigusch ist nicht nur Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main. Er gilt auch zu Recht als einer der wichtigsten Pioniere einer aufklärenden Disziplin, die mehr als biologische Vermessung und soziologische Erbsenzählerei anstrebt. Sigusch betrachtet das Sexuelle ebenso als individuelles Drama wie als gesellschaftliches Phänomen.

Wie andere Forscher und Interpreten der sexuellen Misere – Eberhard Schorsch, Gunter Schmidt, Martin Dannecker, Günter Amendt – verlegte sich Sigusch auf die Diagnose eines Elends, das er nicht im kranken Individuum erkennen wollte, sondern im gesellschaftlichen Umfeld und in dessen Wirkung auf das Individuum.

Das hatte Folgen. Für das freudianisch grundierte, durch Theodor W. Adorno unterfütterte Denken Siguschs existierte so etwas wie Perversion oder Abartigkeit beinahe nicht mehr. Homosexualität beispielsweise konnte nicht mehr als pathologisch gelten, nicht einmal als Störung. Ganz im Sinne Adornos aber dekretierte Sigusch stets: Es gibt keinen guten Sex im falschen Leben. Alles Täuschung, Verblendung, Tand.

Nun hat er seine Ideen über „den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion“ unter dem Titel „Neosexualitäten“ gebündelt. Sex sei „heute nicht mehr die große Metapher des Rausches, des Höhepunktes, der Revolution, des Fortschritts und des Glücks“. Die Jugendlichen zeigten heute, was sich seit 1968 getan hat und was ihnen erlaubt scheint: Sie „oszillieren ziemlich souverän zwischen undramatischer Treue in Liebesbeziehungen und dramatisierten Events voller Thrill“. Zu diesen Umständen passe „die enorme soziale und seelische Aufwertung der Selbstbefriedigung in den letzten Jahrzehnten“.

Und an ebendiesem Detail von dem, was moralisch inzwischen gängig ist, wird deutlich, wie ungenau der Befund Siguschs bisweilen ausfällt. So braucht man sich nur ein wenig in der Gesellschaft umzuhören oder Einschlägiges aus Publikationen wie der Bravo zu lesen, um zu erfahren: Immer noch ist der „Wichser“ der Ratlose, der Einsame – und Selbstbefriedigung allenfalls ein Ersatz für das, was man beim Akt der Selbststimulation imaginiert.

Tatsächlich nimmt Sigusch lediglich wahr, dass niemand mehr glaubt, Onanie zersetze das Rückenmark oder mache auf die Dauer unfruchtbar. Sexualwissenschaftliche Empirie über die Onanie, gerade bei den Neuentdeckern des Sexuellen, den Pubertierenden, fehlt.

Siguschs neosexuelle Diagnosen verfehlen ihren Gegenstand auch in einer zweiten Hinsicht. Die Kommerzialisierung des Sexuellen zerstört nicht ihren erotischen Kern. Der flüchtige Augenschein reicht, um zu erkennen: Erst wenn man so genannte Perversionen vermarktet, schafft man für sie überhaupt einen sozialen Raum. Wer will, findet Gleichinteressierte – behindert nur durch Strafgesetze, in puncto Pädosexualität zum Beispiel. Offen bleibt, wie schlimm das ist. Muss pessimistisch stimmen, dass der Markt bereithält, was früher keine Öffentlichkeit hatte? Ist es womöglich sogar respektabel, dass noch jedes Pläsierchen seinen Platz finden kann?

Siguschs Beitrag, der als eine Bilanz seiner universitären Lehre, ja seines Denken überhaupt verstanden werden kann, lautet: Alle sexuellen Formen, die sich nicht ins Fortpflanzungsmuster einfügen, sind eben Neosexualitäten. Netter Vorschlag. Unerörtert aber bleibt, dass in allen neosexuellen Bejahungen kein Trost und schon gar kein weiterführender Vorschlag zu finden ist. Für die Menschen etwa, die bald keine Intimität mehr kennen, dauerhafte sexuelle Verhältnissen einfach unerträglich finden – und immer neue Stimulationen suchen. Soll das schon befreiend sein? Man darf es bezweifeln. Mit diesem Unbehagen könnte eine moderne Sexualforschung anfangen – ihr Endpunkt sollte es nicht sein. INGEBORG DE VRIES

Volkmar Sigusch: „Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversionen“. Campus, Frankfurt am Main 2005, 230 Seiten, 24,90 Euro