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Archiv-Artikel

Nonsens, gepaart mit musikalischer Opulenz

KLASSIK Am Sonntag startet das Musikfest – nach „L‘Infedeltá delusa“ und „Candide“ – mit Händels „Saul“ abermals durch

VON Henning Bleyl

Dass „Händel zu viel und Haydn zu wenig“ in diesem Doppeljubiläumsjahr gefeiert würde, wie dem überregionalen Feuilleton zu entnehmen ist, kann für das Musikfest Bremen nicht bestätigt werden. Sicher: Mit „Saul“ steht am Sonntag ein außerordentlich vielfältiges Oratorium aus Händels Feder auf dem Programm, aber das ist weder „zu viel“, noch macht sich Haydn rar: Schon bei der Eröffnung des Musikfestes vor zwei Wochen wurden im Dom gleich drei Mal hintereinander Haydns „Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuz“ gespielt, ein leider hoffnungslos überschätztes Werk: Weitgehend den Konventionen von Gefälligkeit und Wohlklang verpflichtet, vermag es nicht im mindesten, auch nur annähernd die Existentialität seines Sujets anzudeuten.

Glücklicherweise war Mitte der Woche jedoch auch „L‘Infedeltá delusa“ zu hören: Diese bislang weitgehend unbekannte Haydn-Oper ist zwar von der Anlage her lediglich ein ländliches Singspiel, eine durchschnittlich lustige Sittenkomödie – doch deren musikalische Ausgestaltung durch Haydn strotzt von Komik, Experimentierlust und dem Willen, dem feudal-heroischen Grundsetting der Barockoper Neues entgegen zu setzen. Voraussetzung, um all‘ das Nachzuerleben, ist der Auftritt einer so versierten Truppe wie dem „Cercle de L‘Harmonie“ unter Jérémie Rhorer – der junge Dirigent ist mittlerweile zu so etwas wie einem Minkowski II des Bremer Musikfestes mutiert.

Auch der Aufführungsort spielte seinen kongenialen Part: Das Oldenburger Staatstheater als ehemaliges Residenztheater der Großherzöge stellt mit all seinem reizenden Emporen- und Ränge-Schnickschnack, mit seiner goldlackierten Puppenstubigkeit als Ausdruck eines sympathisch verstaubten Provinz-Potentatentums genau die richtige Kulisse für den ausgeprägt anti-aristokratischen Zungenschlag der Haydn-Oper.

Zwei Dimensionen größer, wiederum in Bremen, aber ebenfalls der Burleske zugehörig, war Leonard Bernsteins „Candide“ am Donnerstag – als „komische Operette“ ist das Werk gleich doppelt zur Lustigkeit verpflichtet. Für die Kammerphilharmoniker war es in der Tat ein sichtbarer Spaß, zur Abwechslung mal eine Operette runter zu reißen – was keineswegs heißen soll, dass flüchtig gespielt worden wäre –, und auch der Mann auf dem Dirigentenpodest scheint ihnen zu liegen: Es ist Kristjan Järvi, der Bruder ihres künstlerischen Leiters Paavo, der auf dem Musikfest bislang vor allem mit Jazzfusionprogrammen dabei war.

Järvi der Jüngere agiert vom Gestus her eher als Bandleader denn als klassischer Maestro, mit dieser lockeren Art verbreitet er eine animierende Atmosphäre aus Spaß am Tun und Leichtigkeit in der Sache. Allerdings wäre durchaus vorstellbar, der Partitur noch manchen Akzent und Charakterzug zu entreißen, statt sich auf einen „Hauptsache, es groovt“-Standpunkt zu stellen.

Nichtsdestoweniger ist es eine großartige Aufführung, die vor ausverkaufter „Glocke“ über die Bühne geht – das ursprünglich eingeplante Opernhaus am Goetheplatz erwies sich als zu klein für den Andrang.

„Bühne“ meint in diesem Fall ein halbszenisches Spiel, dessen Protagonisten fast ausnahmslos hervorragend sind: Wann sonst hört man in Bremen einen Tenor wie Andrew Staples als Candide, der eine unglaublich wohlplatzierte Stimme mit einer Mimik mischt, die große Effekte durch kleinste Muskelzuckungen erzielt? Auch der Walliser Jeremy Huw Williams, unter anderem als notorisch optimistischer Privatlehrer Pangloss zu Gange, ist ein Schauspieler ersten Ranges, ganz abgesehen von seinem Hauptjob als tadelloser Bariton.

Bernstein selbst trägt zum großen Erfolg dieses Abends vor allem durch die Kombination von Opulenz mit Nonsens bei: Was schon bei Voltaire, Lieferant des Ursprungstextes, eine uferlose Fantasiereise in Gesellschaft von beispielsweise fünf entthronten Monarchen auf einem Floß ist, wird von Bernstein mit soviel musikalischer Masse, Formenreichtum und Zitierfreude quer durch den Garten der europäisch-amerikanischen Musikgeschichte angefüllt, dass man diesen Wegfall jeder Selbstbeschränkung nur in vollen Zügen genießen kann.

Das Musikfest geht nun in sein letztes Drittel, am Sonntag wird durch Händels „Saul“ in Verden noch einmal ein sakraler Schwerpunkt gesetzt. Mit der „Akademie für alte Musik Berlin“ unter Daniel Reuss steht dafür ein Spitzenensemble zur Verfügung, das im Barockbereich höchste Anerkennung genießt. Bei ihrer Gründung Anfang der 80er in Ostberlin bildeten die Akademieler eine in der DDR zunächst recht einsame Speerspitze der historisch informierten Aufführungspraxis, nach der Vereinigung arbeiteten sie sich rasch in die Führungsriege der entsprechenden Szene auch der westlichen Welt vor.

„Saul“ lässt also großes Barock-Tennis erwarten, auch wenn die Akademie auf die gewaltigen, schlachterprobten Kesselpauken verzichten muss, die sich Händel für die Uraufführung des Werkes aus dem Tower auslieh. Der wunderbare Verdener Dom wird das Seinige zum Klangvolumen beitragen.