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Archiv-Artikel

„All das klingt bedrohlich“

DEBATTE Politiker sollten lebenslanges Lernen nicht nur ökonomisch begründen, sagt Historiker Jürgen Overhoff. Die Aufklärer vor 300 Jahren sahen Lernen als Glück

Jürgen Overhoff, 42

Historiker und Erziehungswissenschaftler, lehrt Historische Pädagogik und neuere Geschichte an der Universität Hamburg.

■ Das Buch „Vom Glück, lernen zu dürfen“, basiert auf einer dort gehaltenen Vorlesung und ist bei Klett-Cotta erschienen.

■ Podiumsdiskussion: Am 14. September diskutiert er mit Sachbuchautor Bernhard Bueb über die Thesen seines Buches und die Frage „Wie uns die Lust am Lernenglücklich macht“. Es moderiert Thea Dorn: 19 Uhr, Patriotische Gesellschaft, Reimarus-Saal, Trostbrücke 6, Hamburg. Eintritt frei

INTERVIEW KAIJA KUTTER

taz: Herr Overhoff, Bildungspolitiker fordern die Menschen zum lebenslangen Lernen auf. Was ist daran falsch?

Jürgen Overhoff: Ich sage nicht, das ist falsch. Was ich nicht verstehe, ist die Sprache und die politische Vision. Nehmen wir das Memorandum über lebenslanges Lernen der EU-Kommission aus dem Jahr 2000 oder das entsprechende Strategiepapier in Deutschland von 2004. Da wird betont, wie sehr man sich anstrengen müsse, damit der europäische Raum nicht von der globalen wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt wird. Dass man lebenslang lernen muss und zwar von der Wiege ‚bis zur Bahre’, damit man im Beruf besteht und nicht ‚auf der Strecke bleibt’. All das klingt bedrohlich. Bildung wird auf ökonomische Notwendigkeit reduziert. Von einem lebenslangen Lernen für die intellektuelle Entfaltung ist dort nichts zu lesen. Dieser Druck wirkt auf die Eltern, die sehr besorgt sind, dass ihre Kinder das Richtige lernen.

Sie stellen in ihrem Buch „Vom Glück, lernen zu dürfen – für eine zweckfreie Bildung“, elf Aufklärer des 18. Jahrhunderts und deren pädagogische Ideen vor. Was sahen ein John Locke oder Moses Mendelssohn anders als heutige Politiker?

Diese Aufklärer waren Pioniere. John Locke hat 1693 als erster erkannt und benannt, wie wichtig das Lernen für den eigenen Erfolg und für die Entwicklung einer freien, demokratischen Gesellschaft ist und all die nachfolgenden Aufklärer haben ihm beigestimmt. Anders als heutige Politiker haben sie aber auch zu beruhigen versucht und gesagt: Wenn die Kinder mit Freude das Lernen lernen, dann ist etwas sehr Wichtiges erreicht. Wenn man den Kindern dann eine umfassende Bildung in einer Anzahl von Fächern zukommen lässt, ist die Zuversicht begründet, dass sie ihren Weg in die Arbeitswelt finden und an der Gestaltung der Gesellschaft teilhaben.

Das ist 300 Jahre her. Lässt sich das auf heute übertragen? Wenn jeder Zweite Abitur hat, gibt es größere Konkurrenz.

Ich habe ein Kapitel Benjamin Franklin gewidmet, in dessen Heimat Boston konnten 80 Prozent Lesen und Schreiben, das war damals ein Spitzenwert. Es gab also Konkurrenz. Das hielt Franklin nicht davon ab zu sagen, lasst die Kinder mit Freude lernen, wir vertrauen darauf, dass sie sich bewähren. Heute lassen Eltern ihre Kinder im Vorschulalter Chinesisch lernen. Nichts gegen Chinesisch. Aber hier wird spekuliert, worin die Kinder in 20 Jahren fit sein müssen. Das erzeugt Druck. Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern, wo man weiß, die kommen schon klar, haben Angst zu versagen. Und Kinder aus bildungsfernen Familien resignieren.

Der wirtschaftliche Nutzen ist doch ein gutes Zweckargument, damit nicht nur in Straßen und Infrastruktur, sondern auch in Bildung investiert wird.

Es kommt darauf an, wie man das Pferd aufzäumt. Ich habe einen Vortrag von Christa Goetsch gehört, in dem sie für ihre Schulreform wirbt. Ihr Slogan: „Eine kluge Stadt braucht alle Talente“ unterscheidet sich von besagtem Strategiepapier. Sie argumentiert so wie die Aufklärer. Dass Kinder ein Recht auf individuelle Entfaltung ihrer Talente haben. Das geschieht zum Beispiel durch das Projekt ‚Jedem Kind ein Instrument’.

Führt eine zweckfreie Bildung nicht in manche biografische Sackgasse, etwa vom Philosophiestudium ans Taxisteuer?

Ich spreche von einer Phase des Lebens, der Schulzeit. In dieser Zeit ist ein solches zweckfreies Lernen sinnvoll. Schule kommt vom griechischen ‚Schole‘, das heißt Muße. Dass heißt nicht, dass man die Kinder nicht fragen soll, schau, was du mit deinem Wissen anstellen kannst.

Ihre elf Aufklärer erinnern an die heutige moderne Pädagogik, die oft als Kuschelpädagogik verhöhnt wird. Die raten vom Frontalunterricht ab, sind gegen stumpfes Auswendiglernen und setzen stattdessen auf vergnügliches, exemplarisches Lernen. Warum setzten sich die Vordenker nicht durch? Warum denken viele Deutsche noch heute, dass Lernen Mühe und Leiden heißt?

Da habe ich nur so eine Ahnung. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es dazu, dass die Aufklärer von Neuhumanisten angegriffen wurden. Motto: Schule ist eine ernste Angelegenheit, da sollen Kinder nicht hüpfen und springen. Die machten Front gegen die Aufklärer und sagten, man sieht ja bei der französischen Revolution, was herauskommt, wenn Kindern Faxen im Kopf haben. Warum sich das bis heute hält, muss erforscht werden.

Sie sitzen am 14. September mit Berhard Bueb auf einem Podium und reden über ihr Buch. Ist der Autor von „Lob der Disziplin“ ihr Gegenpol?

Nein. Bueb wird oft falsch eingeschätzt. Sie müssten mal sein neustes Buch lesen, „Von der Pflicht zu führen“. Das liest sich sogar in einigen Passagen wie das Bildungsprogramm von Christa Goetsch. Aber Buebs Buch „Lob der Disziplin“ hat mich angeregt, weil er sagt, wir müssen uns in der Pädagogik an den Werten der Aufklärung orientieren. Er hat dies in seinem Buch auf den Aspekt der Disziplin hin zugespitzt. Das hat mich provoziert, selber zu schauen, was die Aufklärer zu Bildung geschrieben haben.