: Ein halbes Jahr für Tony Blair
Der britische Premier ist ab 1. Juli neuer EU-Ratspräsident. Verfassungsfrage und Finanzen lässt er ruhen. Er will Europa auf einen Kurs an die Seite der USA führen
BRÜSSEL taz ■ Es gehört zu den Absurditäten europäischer Politik, dass die Regierungen am vergangenen Wochenende eine lange Liste einstimmiger Beschlüsse fassten, die vom Finanzstreit verdeckt wurden, ohne Geld aber nicht umgesetzt werden können. Die Millenniumziele zur Armutsbekämpfung, die Nachbarschaftspolitik in den Ländern des westlichen Balkan, im Mittelmeerraum und der ehemaligen Sowjetunion, der Wiederaufbau von Irak, die gemeinschaftliche Sicherheits- und Außenpolitik – das alles kostet viel Geld.
Die britische Ratspräsidentschaft wird in den kommenden sechs Monaten voraussichtlich keinen Versuch unternehmen, die Finanzverhandlungen neu zu beleben. Auch die Verfassungsfrage wird Tony Blair aus innenpolitischen Gründen nicht aufgreifen. Das Arbeitspensum in anderen Bereichen ist ehrgeizig: Reform der UNO, nachhaltige Hilfe für Afrika, der Versuch, im Kampf gegen Klimagase die USA und China mitzunehmen.
Blair will außerdem eine große Grundsatzdebatte über die künftige Richtung der Union führen. Europa als marktorientierter, für die Globalisierung gewappneter Wirtschaftsstandort mit engen außenpolitischen Bindungen nach Washington oder das alte Europa, das seine Identität auf eigene Wege in der Außenpolitik und ein nicht mehr zeitgemäßes Subventionssystem für eine Handvoll Bauern stützt?
In Deutschland wird Blair ab September wohl eine Ansprechpartnerin für seinen Wunsch nach Kurskorrektur finden. Ob Angela Merkel innenpolitisch die knallharte Marktorientierung durchhalten kann, ist aber noch nicht ausgemacht. In Frankreich bereitet sich Jacques Chirac ebenfalls auf Neuwahlen vor. Er wird sich auf nichts einlassen, was Bauernlobby oder Globalisierungskritiker verprellen könnte.
Auf dem EU-Gipfel hatten sich Schweden, Finnland und die Niederlande der Grundsatzkritik an den Agrarsubventionen angeschlossen. Doch alle drei sind gleichzeitig strikte Gegner des Britenrabatts. Sie wollen alle alten Zöpfe abschneiden und das ersparte Geld für Forschung, Bildung und zukunftstaugliche Investitionen ausgeben. Der niederländische Regierungschef will außerdem die finanzielle Bilanz seines Landes verbessern, das der größte Pro-Kopf-Nettozahler in der Union ist.
Auf den zweiten Blick zeigt sich also, dass ein Szenario „24 gegen einen“ die Lage nicht realistisch beschreibt. Die Positionen der Regierungen sind ähnlich unvereinbar wie die Erwartungen der Bürger an Europa widersprüchlich. Durch die Meinungsumfragen zieht sich allerdings ein roter Faden: Die Mehrheit will das europäische Sozialmodell in die neue Zeit hinüberretten. Das liegt weder Blair noch Kommissionschef Barroso am Herzen. Die Mehrheit wünscht sich außerdem eine eigenständige europäische Außenpolitik, kein Mitsegeln im Windschatten der USA. Auch in dieser Frage stehen Blair und Barroso für den genau gegenteiligen Kurs. In den kommenden sechs Monaten wird die Union von zwei Politikern verkörpert, die genau das Gegenteil von dem durchfechten wollen, was die Wähler wünschen. DANIELA WEINGÄRTNER