: Ahmet und Ibrahim
EHRENMORD Ahmet Yildiz liebte Männer und musste sterben, weil er sich dazu bekannte. Eine Geschichte aus dem Milieu, in dem er gelebt hat – und eine, die vom Rand der türkischen Gesellschaft in ihre Mitte führt
1Ibrahim Can, 43, Deutschtürke aus Köln, und Ahmet Yilmaz, 25, Türke, treffen sich im „Tekyön“-Club in Istanbul. Erfolg bei Männern ist Ahmet gewohnt. Aber dieses Mal geht es nicht um schnellen Sex mit verheirateten Männern aus traurigen Bars. Es ist Liebe. Eine sehr männliche, sehr zärtliche. Eine Liebe zwischen „Bären“, Schwulen, die auf Kerle mit Brusthaar und Bauch stehen. Dann beschließt Ahmet, seinen Eltern zu sagen, dass er schwul ist. Er will sich von den Lügen befreien – und doch ein Teil seiner Familie bleiben. Can rät ab. Vergeblich.
2Ahmets Eltern ahnen es längst. Auch in Anatolien gibt es Schwule, aber man spricht nicht darüber. Für sie ist Ahmets Offenheit das Schlimmste. Sie drohen ihm. Dann stirbt er. Das erste offizielle schwule Opfer eines Ehrenmordes in der Türkei.
3Dem türkischen Staat sind Schwule egal, glaubt Can. Nur wenn die Welt von Ahmet hört, wird man seine Mörder fassen – er geht an die Öffentlichkeit. Auch in der Türkei protestieren Schwule auf der Straße. Und im „Tekyön“ geht die Party weiter.
AUS ISTANBUL DENIZ YÜCEL
Ja, ich bin stolz darauf, dass ich mich von den Lügen befreit habe. Aber es ist schwer. Falls Sie glauben, dass Ihre Familie kein Verständnis aufbringen wird, sollten Sie sich davor hüten, es ihr zu sagen.“ So schließt ein Brief von Ahmet Yildiz, in dem er im Mai 2008 im türkischen Onlinemagazin Beargi über sein Coming-out spricht. Zwei Monate später ist er tot. Hingerichtet von seiner Familie, die es, laut Anklageschrift, nicht erträgt, dass er schwul ist. Am Dienstag beginnt vor dem Strafgericht Istanbul-Üsküdar der Prozess gegen Ahmets Vater Yahya Yildiz, einen 49-jährigen bankrotten Gemüse-Exporteur. Allerdings ohne den Angeklagten. Er ist untergetaucht, vermutlich im Nordirak.
Ahmet Yildiz wird nur 26 Jahre alt. Er wächst im südanatolischen Mersin auf, seine Familie ist wohlhabend, kurdisch, religiös. Er geht nach Istanbul, gibt Nachhilfestunden und studiert Physik auf Lehramt. Am späten Abend des 15. Juli, nur Stunden vor seiner Abschlussprüfung, wird er vor seiner Wohnung im Viertel Bulgurlu erschossen.
Als die Schüsse fallen, sitzt sein Lebensgefährte Ibrahim Can in Ahmets Wohnung vorm Computer. Er rennt raus und findet seinen Freund, der nur kurz ein Eis essen wollte, regungslos im Auto. „Baba, bitte nicht sterben!“, ruft Can. „Für zwei Sekunden“ öffnet Ahmet die Augen. Dann sind viele Leute da, auch Sanitäter. Und ein Zivilpolizist, der Can abführt. „Ich habe Ahmet nicht mehr berührt“, klagt er.
In Istanbul kann er nichts tun. Am nächsten Morgen kontaktiert er – Can ist Deutscher – das Konsulat, das ihm Polizeischutz besorgt. Er hat Angst, dass die Familie auch ihm etwas antun könnte. Er wird zum Flughafen eskortiert und fliegt nach Köln, wo der im westanatolischen Sakarya geborene Reiseverkehrskaufmann seit 1979 lebt. Can ist 44, ein Schwulenaktivist war er nie. Doch jetzt soll die Welt von Ahmets Tod erfahren. Und der türkische Staat soll unter Druck geraten. Can verständigt den deutschen Lesben- und Schwulenverband, Amnesty International, jeden, der ihm einfällt. Bald melden sich Reporter bei ihm, als erste Zeitung berichtet der britische Independent vom „ersten dokumentierten Ehrenmord an einem Schwulen in der Türkei“.
Ein knappes Jahr zuvor, im Oktober 2007, hatte Ahmet seinen Eltern offenbart, was diese längst ahnten. Schließlich spionierten sie ihm nach, ließen sein Handy und seinen Computer durchsuchen. „Trotzdem war das Telefonat, das Ahmet mit seinem Vater führte, für den ein Schock. Aber nicht, weil er schwul war, sondern weil er sich dazu bekannte“, erklärt Can. „Manche Männer aus dieser Sippe haben Sex mit Männern, vergehen sich an Jungs. Jeder weiß es, aber keiner spricht darüber. Und dann kommt so ein couragierter Mensch und sagt: So bin ich und so will ich sein.“
Ahmet wollte Rebellion. Und Versöhnung. Er wollte seine Familie „zum Freund“ haben. „Er war lange der materiell verwöhnte einzige Sohn. Und er hing an seiner Familie“, erinnert sich Ahmet Kaya, ein Freund und Cousin des Ermordeten. Er ist ebenfalls schwul. Ahmet habe geglaubt, die Heimlichtuerei nicht fortsetzen zu können, und gehofft, dass sie ihn letztlich akzeptieren würden. Viele Freunde hielten dies für illusorisch. Auch sein Lover, der ihm abriet. „Aber Ahmet hatte seine Gefühle immer unterdrückt, war auf einem religiösen Internat und hatte währenddessen Sex mit Männern“, erzählt Can. „Jetzt brach es aus ihm heraus: Jeder soll wissen, ich bin schwul, ich möchte Schweinefleisch essen, ich möchte ficken – alles, was im Islam tabu ist.“
Sein Coming-out ist der Höhepunkt eines ereignisreichen Jahres: Im Januar wird Ahmet zum „Mister Bear“ gekürt, dann vertritt er die Türkei auf dem „International Bear Rendezvous“ in San Francisco – Bären, das ist eine schwule Subcommunity, die man glatt für eine türkische Erfindung halten könnte: behaarte, bärtige, mitunter dicke Männer, die auf behaarte, bärtige, mitunter dicke Männer stehen. Auf Männer wie Ibrahim Can etwa, den Ahmet im Sommer kennen lernt. „Der sah zwar so aus wie einer dieser Onkeltypen, auf die Ahmet stand, aber emotional war das etwas anderes“, meint ein Freund. Can ist angetan von Ahmets Schönheit und Lebendigkeit, Ahmet findet bei ihm Geborgenheit, Geist und Treue. Can ist oft in Istanbul, einmal besucht ihn Ahmet in Köln. Sie wollen heiraten. Später. Gemeinsame Fotos zeigen Ahmet, wie er sich an seinen fast zwanzig Jahre älteren Freund kuschelt. „Das kannte er vorher nicht“, sagt Can. „Er hatte immer großen Erfolg bei Männern, aber für die meisten Türken ist Sex nur Abspritzen. Sie können nicht küssen, nicht streicheln, geschweige denn ficken“ – zu jenen Deutschtürken, die die Türkei romantisieren, gehört Can nicht.
Auf ihrem Glück lastet der Konflikt mit der Familie. Sie versucht, Ahmet emotional zu erpressen, und verlangt, dass er sich „therapieren“ lässt. Er bekommt Anrufe, einmal stehen Verwandte vor der Tür. Es gibt Morddrohungen. Ahmet nimmt sie zunächst nicht ernst, vielleicht will er seine Angst nicht zeigen. Dann erstattet er doch Anzeige. „Hätte die Staatsanwaltschaft die ernst genommen, wäre Ahmet am Leben“, ist Can überzeugt. Dass dieselbe Behörde nun Anklage erhebe, sei nur der internationalen Aufmerksamkeit geschuldet, die dem Fall zuteilwurde.
Die Rolle der Mutter
Dass Ahmets Vater den Mord alleine verbrochen haben soll, glaubt Can nicht: „Ein Mann mit einer Beinprothese soll das Tatfahrzeug gefahren und daraus geschossen haben?“ Die Ermittlungen müssten ausgeweitet werden, vor allem auf Ahmets Großvater, ohne dessen Zustimmung in diesem Clan nichts von Belang beschlossen werde. „Seine Mutter“, vermutet ein Freund, „eine sehr religiöse und hasserfüllte Frau“, müsse eine wichtige Rolle gespielt haben, schließlich seien Nachstellen und Drohungen von ihr ausgegangen.
Was man in Ahmets Umfeld nur vermutet, kann seine Nachbarin Ümmühan Darama bezeugen: „Da war nicht nur der gelbe Fiat, aus dem auf Ahmets Auto geschossen wurde, sondern auch ein schwarzer Mercedes, der die Straße blockierte.“ Sie saß im Garten ihres Cafés „Tuana“, nur wenige Meter neben dem Tatort, und wurde von einem Querschläger im Fuß getroffen. Darama, eine freundliche, aber resolute, kettenrauchende Dame von 43 Jahren mit Kopftuch und rot lackierten Fingernägeln, erstattet Anzeige. „Im Polizeipräsidium hat man mir gesagt: ‚Sei froh, dass du nicht am Kopf getroffen wurdest, und misch dich da nicht ein!‘ Aber ich kann doch nicht teilnahmslos zusehen, wenn ein Mensch getötet wird.“ Danach erhält sie anonyme Drohungen, eines Nachts wird ihr Café beschossen, sie gibt es schließlich auf. Jetzt ist diese Frau – eine von der AKP-Regierung enttäuschte AKP-Lokalpolitikerin, Unternehmerin und ausgebildete Religionslehrerin – Nebenklägerin und Zeugin der Anklage. So wie sich alle Nachbarn, wie Darama glaubt, aus Angst weigern, belastende Aussagen zu machen, findet sich zunächst auch kein Anwalt. Bis sich Firat Söyle meldet, ein 32-jähriger, aus der kurdisch-arabischen Region Hatay stammender Anwalt, der den suspendierten schwulen Fußballschiedsrichter Ibrahim Dincdag ebenso vertritt wie den linken, seit 1993 existierenden schwul-lesbischen Verein Lambda Istanbul. Und immer wieder Transsexuelle und Transvestiten – allein seit dem Mord an Ahmet hat Lambda landesweit 15 Morde an ihnen gezählt, darunter eine Lambda-Aktivistin, die 28-jährige Ebru Soykan.
Der heterosexuelle Mann
„Ob ein Schwuler oder eine Transsexuelle Gewalt erfährt oder eine heterosexuelle Frau, die sexuelle Selbstbestimmung in Anspruch nimmt, stets geht es um die Angst des heterosexuellen Mannes vor Kontrollverlust“, meint Anwalt Söyle, der Ende vorigen Jahres Lambda erfolgreich verteidigte. In der zweiten Instanz scheiterte damals ein Verbotsantrag des Gouverneurs von Istanbul, der die Vereinsziele der „allgemeinen Moral“ und der „türkischen Familienstruktur“ zuwider fand. Selbst das Berufungsgericht wies sein Ansinnen nicht ganz zurück: Falls Lambda Homosexualität als erstrebenswert darstellen oder zu homosexuellen Handlungen verführen sollte, sei dies ein Verbotsgrund.
Derlei Repressalien hält Söyle für Reaktionen auf die Emanzipationsbewegung: „In dem Maße, in dem Schwule und Lesben sichtbar werden, wächst die Akzeptanz. Zugleich entzünden sich Konflikte.“
Zu den Fortschritten, die Söyle attestiert, gehört vielleicht auch, dass sich die Pluralisierung von Lebensentwürfen, die sich in der gesamten Gesellschaft vollzieht, innerhalb der schwulen Minderheit widerspiegelt. Zum Beispiel in Gestalt der Bären. Als die sich Ende der Neunziger zunächst in Onlineforen und später bei Treffen in Istanbul erstmals formieren, ist Ahmet Kaya, der schwule Cousin des Ermordeten, dabei. Er ist Mitte zwanzig, lebt im kurdischen Urfa und verfügt bereits über ein Medium, das die schwule Selbst- und Fremdfindung revolutioniert und demokratisiert hat: das Internet. „Im Netz habe ich meine Homosexualität und zugleich meine Bären-Identität entdeckt“, sagt Kaya. Vielen, oft aus urbanen Schichten kommenden Homoaktivisten der ersten Stunde sind die Bären indes suspekt. Ihr Verdacht: Diese Leute definieren sich allein über sexuelle Vorlieben und übernehmen das herrschende Männlichkeitsideal.
„Ach was!“, ruft Kaya in seinem breiten kurdischen Akzent. „Wir, jedenfalls der Kern der Bär-Aktivisten, sind keine Macker und gegen das Gerede von ‚aktiven‘ und ‚passiven‘ Partnern.“ Bärsein bedeute für ihn Freiheit und Natürlichkeit; die Bärenbewegung auch eine Rebellion gegen den gängigen schwulen Lifestyle. Mackerhaft wirkt Kaya tatsächlich nicht; ein herzlicher, oft lachender Mensch, der eben Schnauzer trägt, einen mittelgroßen Bauch hat und kein Problem damit, das Gespräch in seiner Wohnung in Unterhosen zu führen.
Ist es schwer, als Schwuler in der anatolischen Provinz zu leben? „Na ja, im öffentlichen Leben sind die Männer fast nur unter sich, Kontakte zwischen Männern fallen darum nicht weiter auf. Und solange man einen gewissen sozialen Status besitzt und nicht feminin wirkt, wird man als oglanci, als Knabenliebhaber, stillschweigend akzeptiert.“ Gerade in Urfa gebe es eine rege Subkultur mit Hamams, Bars und „Herrenzimmern“. Kaya aber findet dieses Leben verlogen. Er ist oft in Istanbul und zieht schließlich dorthin.
Abends hilft er im „Bearphorus“ aus, neben dem Onlinemagazin Beargi die zweite Institution der Bären. Die kleine Bar liegt in Talimhane, einem zentralen, lange heruntergekommenen Viertel, das gerade aufgewertet wird. An diesem Mittwochabend sind ein Dutzend Gäste da; außer einem Franzosen scheinen sich alle zu kennen. Man spielt Tech-House, nicht zu laut, auf dem Flaschenregal flimmert ein Video von der diesjährigen Istanbuler Gay-Pride-Demonstration mit den Bären in der Hauptrolle – ihre erste organisierte Beteiligung und für Bären eher ungewöhnlich. Viele von ihnen seien früher schon mitgelaufen, sagt Kaya, aber nach dem Mord sei das Bedürfnis gestiegen, sich öffentlich zu zeigen – Ahmet war einer von ihnen, daher die Internetkampagne „Ahmet is my Family“.
Auf einem Laptop am Tresen betrachten einige Gäste ein neues Video: Aufnahmen von der Party am Wochenende mit einigen hundert Gästen und einem italienischen DJ-Combo samt Bühnenshow: zwei dicke, nur Schnauzer und Slip tragende Männer, die auf einer Grandlit liegend mit bewundernswerter Ausdauer knutschen. „Das muss auf Youtube“, scherzt einer. „Willst du doch mehr Ahmet-Yildiz-Fälle?“, antwortet ein anderer. Sie lachen.
Ob sich in der Bärenszene die Subkultur der Provinz fortsetze? Nein, wehrt Kaya ab. Selbst wenn viele von ihnen aus der Provinz stammten, hätten fast alle einen Universitätsabschluss und gehörten zur Mittel- oder gar Oberschicht. Es gebe aber persönliche, zumeist rein sexuelle Kontakte zu maskulinen Schwulen, die sich aber selbst nicht als solche sähen und die Codes der Unterschicht kultivierten.
Dieses Milieu findet man in einigen als Hammam getarnten Treffpunkten. Oder in der „Pasam-Bar“ in Aksaray, einem Viertel für kleine Leute. Kein Schild deutet auf die Existenz dieser Bar hin, und mag sie auch auf internationalen Gaysites aufgeführt sein (mal als „very exotic“, ein andermal als „not cool“), ist sie unter den Politschwulen kaum bekannt. „Das ist doch der Laden, in dem der Trucker dem Metzger zuzwinkert“, sagt eine gut informierte Lambda-Frau. An der Tür wird schon mal nach Referenzen gefragt, innen hingegen wirkt das „Pasam“ wie eine beliebige, einfache Bar – die Küsschen zur Begrüßung und der Körperkontakt beim Gespräch sind überall üblich. Die 30, 40 Gäste, fast alle in gestreiften, tief geöffneten Hemden, trinken Bier oder Raki und knabbern Erdnüsse. Das Interieur ist schäbig, der Raum dunkel. Viel geredet wird nicht, auch lautes Lachen scheint verpönt.
Als ginge es darum, die Duldung von Transvestiten im Showbusiness zu karikieren, singt eine ramponiert wirkende Transe Arabesken – die stets von Unglück handelnde Popmusik der Vororte. Ab und zu setzt sie sich an einen der Tische und bittet einen der Herren zum Duett. Es wirkt erzwungen. Das subkulturelle Leitbild ist der agir abi, wörtlich: der „schwere, große Bruder“. Dessen Werte: Stolz, Ehre und Ernst. Hier müsste man hinzufügen: Heimlichkeit. Denn die meisten Gäste sind, wie ein Kellner verrät, verheiratet. Ahmet Yildiz fand hier einige Male einen dieser Familienväter zum flüchtigen Sex.
Bärige Kundschaft
Männer wie Kadir Erol, der tatsächlich anders heißt und nichts mit Ahmet hatte. Er ist Mitte fünfzig, arbeitet auf dem Bau und stammt aus der Schwarzmeerregion. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Mit seiner Frau geschlafen habe er schon, gerade so oft, dass ihr nichts auffiel. Wie seine Lust nach Vorschrift unbemerkt bleiben konnte? „Was versteht meine Frau schon von Sexualität?“, fragt Erol zurück – und merkt, wie grob das klingt. Jetzt will er sich erklären: „Sie ist meine Cousine. Als wir miteinander verheiratet wurden, war sie 17, ich 20. Mit der Zeit sind wir gute Freunde geworden, aber keine Liebhaber. Manchmal frage ich mich, ob ich das Leben eines anderen gelebt habe. Dann denke ich wieder: So ist es besser, sonst hätte ich jetzt keine Familie und wäre einsam.“
Zurück nach Beyoglu, ins „Tekyön“, wo sich Ibrahim Can und Ahmet Yildiz kennen gelernt haben. Damals eher einer „bärigen“ Kundschaft reserviert, ist der Club in diesem Sommer in die Clubmeile auf der Siraselviler-Straße umgezogen. Und ist derzeit dank seiner Lage, seines Rauchergartens und der dank Krise toleranten Einlasspraxis außer Konkurrenz. An diesem windigen Augustsamstag mögen knapp tausend Gäste hier sein. Die Tanzfläche ist voll, in kühner Folge wechselt sich Kirmestechno mit Türkpop ab. Obwohl keine Transen und nur zehn Frauen reingelassen werden, ist die Kundschaft heterogener als in den Heteroclubs der Umgebung: Bären und Blasierte, Bürgerliche und Malocher, Lambda-Aktivisten, Väter, Stricher, Touristen, die Jüngsten gerade so volljährig, die Ältesten jenseits der 50. Zwei gegenläufige Tendenzen der türkischen Gesellschaft zeigen sich hier im Kleinen: Einerseits differenzieren sich Milieus und Lebensentwürfe aus, zugleich gibt es Konfrontationen – Heteros gegen Homos, Säkularisten gegen Religiöse, Türken gegen Kurden – die zusammenbringen, was nicht oder nicht mehr zusammenpasst.
Und weil es nicht passt, wird auch getrennt gefeiert. Gruppen von eher jüngeren Schwulen aus der Ober- und Mittelklasse amüsieren sich beim Tanzen oder Plauschen, ebenso Bären, die mit nackten, behaarten Oberkörpern ihre eigene Party feiern. Das tendenziell ältere Publikum aus den Vorstädten hingegen steht eher am Rand, viele von ihnen sind allein, scannen unentwegt das Publikum.
Einige Trucker-Typen versuchen sich mit ungelenken Bewegungen auf der Tanzfläche. Der Unterschied zwischen Feiernden und Scannenden dürfte etwa identisch sein mit dem zwischen erklärten und heimlichen Schwulen. Im Lauf der Nacht werden diese Dinge unwichtiger. Einige gehen einsam weg, dafür blockieren immer mehr knutschende Pärchen den Weg. Das Coming-out ist eine Klassenfrage. Der Sex nicht, jedenfalls nicht hier. Die Liebe schon eher.
Einen neuen Liebhaber will Ibrahim Can nicht, solange Ahmet keine Gerechtigkeit widerfahren ist. Nächste Woche wird er zum Prozessauftakt reisen. „Ich will dem Gericht zeigen: Hier bin ich, wo sind die Mörder?“ Und wenn er Ahmets Vater eines Tages tatsächlich begegnet? „Ich würde ihn fragen: Woher hat er sich das Recht genommen, Ahmet zu töten und mir so weh zu tun? Und dann möchte ich aus seinem Mund hören: Ich habe ihn getötet, weil er schwul war.“
■ Deniz Yücel, Jahrgang 1973, ist taz-Redakteur und meist unrasiert. Für diese Reportage drehte er in Istanbul Steine um, von denen er gar nicht wusste, dass es sie gibt.