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Archiv-Artikel

Für jeden eine zweite Chance

taz-Serie „Engagement macht Schule“ (Teil 7 und Schluss): Die Werner-Stephan-Hauptschulein Tempelhof setzt auf das Selbstbewusstsein ihrer Schüler. Das Sitzenbleiben ist abgeschafft

VON ANNA LEHMANN

Sie waren die typischen Verlierer: Außenseiter in der Grundschule, mit mäßigen Zensuren, unbeliebt bei Schülern und Lehrern: „Von den Lehrern hab ich immer gehört, du kriegst doch nichts hin, du landest später mal auf der Straße“, sagt Lulu. Ihrem Klassenkameraden Marcus ging es ähnlich. Nach der 6. Klasse war klar, wo sie hingehörten: auf die Hauptschule, die deutsche Restschule. Marcus wurde die Entscheidung leicht gemacht: „Keine andere Schule wollte mich, wegen meiner Noten“, sagt er. So landete Marcus auf der Werner-Stephan-Hauptschule in Tempelhof. Lulu wollte hierher.

Drei Jahre später, kurz vor dem Ende der 9. Klasse , können die beiden souverän über diese Periode ihrer Schulzeit berichten. Die kleine, selbstbewusste Lulu und Marcus, stämmig und stoppelhaarig, gehen heute gern zur Schule. „Hier konnte man noch mal neu anfangen“, sagt Marcus.

Es gibt viele Gründe für Schulfrust – das Ergebnis ist meistens das gleiche. Die Schüler verlieren das Vertrauen in sich und die Schule, sie fehlen immer häufiger, einige bleiben irgendwann ganz weg. 18 Prozent der Berliner Schüler sind so genannte Schulverweigerer, an der Werner-Stephan-Schule sind es ganze 3 Prozent. „Wenn die Kinder zu uns kommen, versuchen wir erst einmal, die Klasse als Gruppe zusammenzuschmieden und dann schrittweise den Schülern klar zu machen, dass sie eine neue Chance haben“, sagt die Leiterin der Werner-Stephan-Schule, Hannelore Weimar. „Sie brauchen Erfolgserlebnisse.“

Die Schule ist Mitglied im Verband selbstwirksamer Schulen. Selbstwirksamkeit ist die Fähigkeit, Schwierigkeiten aus eigener Kraft zu meistern und das Beste aus einer Situation zu machen. Die Basis dafür ist ein gesundes Selbstbewusstsein. Genau daran mangelt es vielen Hauptschülern. „Wir versuchen, unseren Schülern zu vermitteln, auch sie können was im Leben erreichen“, sagt die Leiterin. Eigentlich erwartet man das ganz allgemein von Schulen, selbstverständlich aber ist es nicht.

Die Werner-Stephan-Oberschule hat schulintern vieles verändert, um Jugendlichen das Gefühl zu geben, dass es sich lohnt, sich in und für die Schule zu engagieren. Mitte der 90er-Jahre wurde das Sitzenbleiben abgeschafft. „Wenn einer nicht versetzt wird, ist das für alle frustrierend. Man hat ja ein Jahr im Team gearbeitet“, berichtet Ilona Ludwig-Schulz, eine der Lehrerinnen. Mit einem Trick haben die Lehrer das damals noch gültige Schulgesetz umgangen: Die Sitzenbleiber wurden auf Probe versetzt und erhielten in der nächsten Klasse den Gaststatus. Mittlerweile ist diese Möglichkeit im neuen Schulgesetz verankert. Jeden könne die Schule so allerdings nicht bis zum Abschluss bringen, gibt Ludwig-Schulz zu. Manche aber bekommen wieder Anschluss. „Der eine oder andere schafft es dann doch noch, ein bisschen mehr aus seinem Leben zu machen“, sagt die Lehrerin. „Und dafür lohnt es sich schon.“

„Mäuschen“ nennt Ludwig-Schulz die Schüler, in der Mehrzahl pubertierende Halbwüchsige. Doch wer zu ihr kommt, kommt in der Regel aus freien Stücken. Ludwig-Schulz leitet die Schulstation, einen Raum, in den Schüler geschickt werden, die am Unterricht nicht teilnehmen können. Meist ist „Krankheit“ auf dem Laufzettel angekreuzt, doch oft entspringt das Unwohlsein dem Wunsch, sich auszusprechen oder für sich zu sein. Selbst wenn „Konflikt“ auf den Zetten markiert ist, kommen die Schüler meist aus dem Unterricht geradewegs in die „Wohlfühlstation“. „Das hier ist ihr Raum, und das wissen sie“, sagt die Lehrerin.

Die Station hat von der ersten bis zur letzten Stunde geöffnet. Immer ist ein Lehrer als Ansprechpartner da. Möglich ist dies, weil der Unterricht statt 45 Minuten nur 40 Minuten dauert. Die gesparte Zeit stecken Lehrer und Schüler in zahlreiche Projekte und Arbeitsgemeinschaften.

In der Pause drängt sich eine Traube von Jungen und Mädchen vor dem Verkaufstresen der Cafeteria. Die Bewirtschaftung hat gerade die Klasse 9.3 übernommen. 18 Punkte umfasst die Checkliste an der Wand – vom Brötchenholen früh um halb acht bis zur Endabrechnung machen die Schüler alles selbst. Der Erlös kommt in die Klassenkasse.

Verantwortung müssen alle Schüler übernehmen. Das fängt beim Schulversprechen an. Die Klassensprecher und Vertrauensschüler arbeiten die Schulordnung jedes Jahr um und alle Schüler unterschreiben sie. „Wer nicht unterschreibt, schließt sich damit praktisch aus der Gemeinschaft aus“, sagt Marcus. Die Schüler versprechen zum Beispiel, sich gegenseitig zu helfen oder das Handy auszulassen. „Wenn es mal zu einer Schlägerei kommt, kann keiner seine Kumpels anrufen und sagen: Hey, kommt mal her, hier ist was los“, begründet Marcus diese Regel. Dass solche Situationen jedoch kaum eintreten, dafür sorgen Schüler wie er und Lulu.

Die beiden sind Streitschlichter, Schüler, die bei Konflikten eingreifen. Viermal im Jahr fahren sie auf Schulungen. Allein wegen dieser Fahrten ist Streitschlichter ein äußerst begehrter Posten. Wer sich bewirbt, muss allerdings beweisen, dass er es ernst meint. Deshalb lassen die Lehrer auch gern den größten Rabauken diese Ehre zuteil werden. „ ‚Aus Böcken werden Gärtner‘, sagt unser Lehrer immer“, erzählt Lulu. Und sie hat an Mitschülern gesehen, dass das stimmt.

Auch im Unterricht lernen die Jugendlichen, sich gegenseitig zu respektieren. In jede Klasse gehen auch Schüler mit diagnostizierten Schwächen: geistig Behinderte, Lernschwache oder Verhaltensauffällige. Weil alle Klassen so genannte Integrationsklassen sind, ist die Werner-Stephan-Hauptschule mit überdurchschnittlich viel Personal ausgestattet. Fast immer sind zwei Lehrer im Unterricht.

In der Klasse 7.3 sind heute sogar vier Erwachsene: zwei Lehrerinnen, ein Sozialpädagoge und ein Mädchen, die letztes Jahr hier ihren Realschulabschluss gemacht hat und jetzt in ihrer Freizeit als „Hobbylehrerin“ hilft. Die Schüler sollen Dreiecke konstruieren. Vier Gruppen haben jeweils unterschiedliche Aufgaben vor sich. Nach zehn Minuten wird im Uhrzeigersinn gewechselt. Gedämpftes Stimmengewirr hängt im Raum.

Die Lehrer beugen sich über die Schüler, erklären, geben Ratschläge. Keiner Anleitung bedarf der Umgang mit den beiden geistig behinderten Mädchen. Wie selbstverständlich nimmt jemand Natascha bei der Hand, und auch ihr Arbeitsblatt räumt der Banknachbar am Ende mit weg.

Auch Schüler, die erst seit einigen Monaten in Deutschland sind, lernen an der Schule. Nach intensivem Deutschunterricht werden sie in eine neunte Klasse integriert. Fast alle schaffen so den Hauptschulabschluss, einige sogar den Realschulabschluss oder den Sprung aufs Gymnasium. Alle Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, bekommen besondere Förderung. An der Werner-Stephan-Oberschule sind das etwa 50 Prozent. Doch für das kommende Schuljahr wurde der Schule die Zahl der Förderstunden zusammengestrichen – auf die Hälfte. Weil es in ganz Berlin nur ein bestimmtes Kontingent solcher Stunden gibt und die Zahl der Kinder mit Förderbedarf steigt, wird umverteilt.

Das trübt die Stimmung im Lehrerzimmer. In den Schulfluren ist es dagegen lauter als gewöhnlich. Die Ferien nahen. Im nächsten Schuljahr wird es für Lulu und Marcus ernst. „Ich will unbedingt den Realschulabschluss“, sagt Lulu. Marcus weiß, dass er auf jeden Fall den erweiterten Hauptschulabschluss schafft. Er werde bald Bruder, verrät er. Für das Geschwisterchen hat er schon konkrete Pläne: „Später soll es auf die Schule hier gehen.“