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Archiv-Artikel

Das Leben ist schöner als das Paradies

Am Mittwoch hatten die Ägypter die Wahl: Zum ersten Mal konnten sie am 23. Mai 2012 unter 13 Kandidaten in einer freien Wahl ihren Präsidenten bestimmen. Die Revolution vom Tahrirplatz hat es möglich gemacht. Eine Momentaufnahme aus Stuttgarts Partnerstadt, aufgenommen kurz vor dem historischen Ereignis

von Susanne Stiefel (Text und Fotos)

Sie wollen das Paradies. Sie wollen es auf Erden und am besten sofort. Die Kairoer Schriftsteller und Intellektuellen, die sich an diesem Abend wie so oft bei Mohammed Haschem im linken Merit-Verlag treffen, haben die Bescheidenheit seit dem arabischen Frühling abgestreift wie einen zu engen Schuh. Die Luft im Büro des unerschrockenen Verlegers ist dick vom Zigarettenqualm, vom Gelächter der Männer und den wild geführten Diskussionen. Sie umhüllt die Occupy-Maske auf Haschems Schreibtisch ebenso wie das Revolutionsplakat mit dem Titel: „Wir machen weiter. Vereinigung der revolutionären Kräfte.“ Ein starkes Jahr nach der Revolution vom Tahrirplatz und kurz vor den ersten demokratischen Präsidentschaftswahlen ist das Plakat Programm.

An diesem Abend diskutieren sie die Rolle der Intellektuellen im Ägypten des Übergangs, eingezwängt zwischen Militärrat und Islamisten. Auch die 13 Präsidentschaftskandidaten werden zerpflückt, von den aussichtsreichsten drei Kandidaten will ihnen keiner gefallen: Amr Mussa – als Außenminister unter Mubarak zu sehr dem alten Regime verhaftet. Abu al-Futuh und Mohammed Morsi – zu islamistisch. Irgendjemand holt Bier, ein anderer Wein, und an der Stirnseite des langgestreckten Raums sitzt der zerzauste, magere Verleger auf seinem Stuhl wie ein König, der sich als Beamter mit Brille verkleidet hat. Mohammed Haschems kleiner Verlag ist das Mekka der ägyptischen Intellektuellen. Im arabischen Frühling wurde er zur Schaltzentrale der Revolution.

Weder vom Islam noch vom Militärrat regiert werden

Davon erzählt der Schriftsteller Hamdi Abu Golayyel gerne laut und gestenreich. Hier in dieser kleinen Wohnung, nur eine Straße vom Tahrirplatz entfernt, haben sie sich mit Gasmasken ausgerüstet. Hierher haben sie sich zurückgezogen, wenn sie mal Atem schöpfen wollten. Hier haben sie gesessen und sich die Köpfe heiß diskutiert über die richtige Strategie – und sind dann oft über Nacht geblieben. Heute streiten sie darüber, wie die Gesellschaft nach Mubarak aussehen soll.

„Wir wollen weder vom politischen Islam und noch von einem Militärrat regiert werden“, sagt Mohammed Haschem, der sich seit der Gründung des Verlags 1998 nicht nur für die Freiheit der Kunst eingesetzt hat, „wir wollen einen zivilen Staat“. Mit Gewaltenteilung, sozialer Gerechtigkeit, Presse- und Meinungsfreiheit. Eine Freiheit, die sich Haschem schon zu Mubaraks Zeiten gegen die Zensur ertrotzt hat. Und für die er schon ins Gefängnis gegangen ist.

Von Resignation sind Mohammed Haschem und seine Mitstreiter weit entfernt. Trotz des Siegs der Muslimbruderschaft und der Salafisten bei den ersten demokratischen Parlamentswahlen im Januar. Trotz der dauernden Repressionen durch den Militärrat. „Es gibt keinen Weg zurück“, sagt Hamdi Abu Golayyel, der mit seinem Roman A dog with no tail vor vier Jahren den renommierten Nagib-Mahfus-Preis gewonnen hat.

Ägypten kurz vor den Präsidentschaftswahlen. Ein Land zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Muslimbruderschaft und Militärrat. Sind die Generäle, für den Westen derzeit ein Garant für Sicherheit, überhaupt interessiert an einem demokratischen und wirtschaftlichen Umbau? Wird die Muslimbruderschaft einen islamischen Staat aufbauen, der die Scharia zum Fundament hat?

Die Gefahren sieht auch der Politikwissenschaftler und Soziologe Dr. Ammar Ali Hassan vom Nilcenter für ökonomische und strategische Studien. Sein Zentrum versteht sich als Teil der nationalen Demokratiebewegung. Dennoch ist Ammar Ali Hassan zuversichtlich: „Das Rad ist nicht mehr zurückzudrehen.“ Viele seien durch den arabischen Frühling politisiert, und die Islamisten büßten Sympathien ein seit der für sie siegreichen Parlamentswahl. Denn nun zeige sich, dass sie zwar reden, aber nicht regieren könnten. „Die Islamisten sind entzaubert“, sagt Ammar Ali Hassan. Natürlich werde auch der Militärrat um seine politische Rolle kämpfen. „Aber hinter die Ansage, am 30. Juni die Macht abzugeben, kann er nicht zurück.“

Diese ägyptische Zuversicht mag auf den ersten Blick naiv erscheinen. Doch dahinter steckt das Selbstbewusstsein einer erfolgreichen Bewegung, deren Symbol der Tahrirplatz ist. Er ist das Brandenburger Tor Ägyptens.

Der Tahrirplatz heute. Langsam erobern sich die Autos den Ort wieder zurück, füllen die Luft mit ihrem Lärm und Gestank. Nur auf der Verkehrsinsel stehen noch vereinzelt Zelte. Die schmücken zwar Parolen gegen den Militärrat, doch im Innern sind heute, so erzählen die Schriftsteller vom Merit-Verlag, immer mehr Sicherheitspolizisten zu finden. Die Blockaden in den Nebenstraßen sind inzwischen mit bunten Bildern besprüht, die mächtigen Bollwerke sind eine Mahnung an die Zeit, als versucht wurde, den Protest der Jugend zu zähmen.

Die Kairoer scheint das wenig zu kümmern. Gekonnt klettern sie über die Graffiti-besprühten Quader wie auf einer Ameisenstraße. Die Menschen lassen sich nicht mehr so leicht aussperren, sie sind optimistisch, aber nicht sorglos. Sie haben das autoritäre, korrupte Mubarak-Regime zu Fall gebracht, sie sind sich sicher, dass sie den Platz jederzeit wieder zu Abertausenden füllen könnten.

Dieser Ort im Zentrum Kairos hat den amerikanischen Galeristen Ioan Dan Coma dazu inspiriert, einen internationalen Wettbewerb für einen neuen Tahrirplatz auszuloben. Ein Denkmal für die Revolution. Gewonnen hat vor wenigen Tagen ein Entwurf der Stuttgarter Architekten Jörg Esefeld und Sayman Bostanci. Ihre 30 Meter hohe Lichtstele ist eine Hommage an die ägyptische Internet-Generation, die das Meinungsmonopol der Staatspresse durchbrochen und Tausende mobilisiert hat. Die Stele zeigt an, ob bei Twitter und Facebook grade viel los ist (rot) oder wenig (gelb). Schade, dass dieser Wettbewerb nicht von der Regierung oder der Kairoer Stadtverwaltung ausgeschrieben wurde. So wird er wohl ein Gedankenspiel bleiben.

Sind die Frauen die Verliererinnen der Revolution?

Auch Hoda Badran war auf dem Platz. Die Präsidentin der Arabischen Frauenallianz hat sich von ihrer Tochter dorthin locken lassen. Eigentlich wollte sie den Protest den Jungen überlassen. „Es war wunderbar dort, ich fühlte mich 40 Jahre jünger“, schwärmt die ägyptische Frauenrechtlerin. Hoda Badran ist 83 Jahre alt. An diesem Tag sitzt sie hinter ihrem Schreibtisch im Kairoer Büro der Arabischen Frauenallianz, die Haare akurat frisiert, obwohl sie gerade im berüchtigten Kairoer Stau feststeckte, kein Kopftuch, natürlich nicht, sie mag die Verschleierung nicht.

„Religion ist eine Sache zwischen Gott und mir“, sagt die Präsidentin der Arabischen Frauenallianz, „ich brauche dazu keinen Staat und keine Religionsführer, die mir vorschreiben, was ich zu tun oder anzuziehen habe.“ Die Ägypterinnen spielten eine wichtige Rolle während der Revolution. Doch im neuen Parlament der Salafisten und Muslimbrüder kann man weibliche Abgeordnete an einer Hand abzählen. Auch der Militärrat ist nicht eben für eine fortschrittliche, frauenfreundliche Politik bekannt. Sind die Frauen also die Verliererinnen der Revolution?

Hoda Badran ist keine, die sich so leicht einschüchtern lässt. Gerade jetzt, gerade in der Zeit des Umbruchs kämpft sie mit ihrer Arabischen Frauenallianz für Gleichberechtigung. Sie diskutieren mit, ob es nun um den Frauenanteil in der verfassungsgebenden Versammlung geht, um eine Quote im Parlament oder um die juristische Verfolgung von Revolutionärinnen wie Asmaa Mahfus. Die junge Bloggerin hat mit ihrem Internetaufruf viele Frauen auf den Tahrirplatz gelockt und inzwischen drei Verfahren vor dem Militärgericht am Hals. Hoda Badran, die auf eine Unikarriere und langjährige Tätigkeit bei der UN zurückblicken kann, hat gelernt, beharrlich zu sein. „Ich habe Asmaa Mahfus einen Job in der Frauenallianz angeboten“, sagt die Frauenaktivistin.

Für Gamal Eid ist Asmaa Mahfus eine von vielen Aktivisten, die er verteidigt. Seit 2004 existiert sein Arabisches Netzwerk für Menschenrechte. Doch schon viel länger kämpft der Menschenrechtsaktivist, der selbst schon im Gefängnis saß, für die Glaubens- und Meinungsfreiheit in Ägypten und der arabischen Welt. Für dieses Engagement hat Gamal Eid im vergangenen Jahr den Roland-Berger-Preis für Menschenwürde bekommen. Keine Frage, dass der 48-Jährige das Preisgeld in seine Arbeit steckt. Eigentlich dachten er und seine Mitstreiter, dass sie nun weniger zu tun hätten. „Doch der Militärrat hat sich als schlimmer erwiesen als das Mubarak-System“, sagt Gamal Eid in dem kargen Konferenzzimmer des Netzwerks.

Hier im Büro des Netzwerks im Kairoer Börsenviertel dokumentieren sie die Menschenrechtsverletzungen des Militärrats gegen Studenten, die gefoltert wurden, und gegen Frauen, die bei ihrer Festnahme einer Zwangsuntersuchung ihrer Jungfräulichkeit unterzogen wurden. Vor Gamal Eid liegt eine erst vor wenigen Tagen fertig gestellte Dokumentation. Sie listet die Märtyrer der Revolution ebenso auf, wie sie versucht, die Täter ausfindig zu machen. „Sie haben nicht begriffen, dass sich die Menschen nicht mehr einschüchtern lassen“, sagt Eid. Sie, das ist der Militärrat, aber auch die alte korrupte Elite unter Mubarak, die sich derzeit wegduckt.

Ägypten hat noch einen langen Weg vor sich. Bis eine wirklich unabhängige Justiz aufgebaut ist, wie sie Gamal Eid fordert. Bis die soziale Kluft überwunden ist, die 70 Prozent der armen Bevölkerung von einer kleinen Gruppe Vermögender trennt, die ihr Geld meist in der korrupten Ära Hosni Mubarak gescheffelt haben. Und womöglich ist der Weg noch ein wenig länger und steiniger, bis die Gleichberechtigung der Frauen erreicht ist, wie sie Hoda Badran erträumt. Doch die Lust, sich die Freiheit zu erobern, ist nicht nur im Merit-Verlag zu spüren.

Dort ist die Luft inzwischen zum Schneiden, die Diskussion hat einen Lärmpegel erreicht, der dem Verkehr draußen Konkurrenz macht. Die Schriftsteller, Journalisten und Intellektuellen in Mohammed Haschems Büro prosten sich zu. „Das Leben ist schöner als das Paradies“ – diese Devise haben sie dem gleichnamigen Buch des Schriftstellers Khaled al-Berry entliehen. „Das hier ist unser kleines Paradies“, verkündet Hamdi Abu Golayyel, und alle klatschen. Sie hoffen, dass einmal ganz Ägypten so ein Ort der Freiheit sein wird wie Mohammed Haschems kleiner Merit-Verlag.