Punk-Präsident mit Haltung

VERDRÄNGUNGSGEGNER Punkveteran Jello Biafra und seine neue Band Guantanamo School of Medicine knüpften im SO 36 an alte Zeiten an

Der Schmerbauch hindert den leicht Angegrauten nicht am Stagediving. Die Fans danken ihm den Einsatz mit einer gigantischen Bierdusche

Das sollte Klaus Wowereit aufhorchen lassen. „Das erste Wort, das mir in den Sinn kommt, wenn ich an Berlin denke, ist Gentrifizierung.“ Der Mann, der diese Worte am Freitagabend im SO 36 sprach, ist ein Experte für klare Ansagen: Punkidol Jello Biafra war nach langer Zeit wieder in Kreuzberg zu Gast, diesmal mit seiner neuen Band The Guantanamo School of Medicine.

Die Äußerungen des Sängers und Politaktivisten dürften bei den Veranstaltern auf offene Ohren gestoßen sein, sehen sie sich doch gravierenden Verschiebungen in dem Kiez ausgesetzt, den Biafra Anfang der 80er-Jahre mit den legendären Dead Kennedys kennen gelernt hatte. Wenigstens hatte das Benefiz-Konzert der Toten Hosen zwei Tage zuvor die Kasse für die von Anwohnern geforderte Lärmschutzwand aufgebessert.

Sich verschärfende Verdrängungsprozesse in Metropolen waren indes nur eines von vielen Themen, die der 51-Jährige – ebenfalls bekannt für seine Spoken-Word-Tourneen durch Nordamerika – zwischen den kompakten und wuchtigen Punknummern ansprach, die vor allem einen Vorgeschmack auf das im Oktober erscheinende Album „The Audacity of Hype“ gaben.

Allen voran „Electronic Plantation“ – eine satirische Beschreibung der globalisierten Arbeitswelt – knüpfte mit seinem Monstergroove, Gelächter-Gesang und melodischen Gitarren-Licks konsequent an alte Zeiten an, ohne wie eine Kopie zu klingen. Ganz zu schweigen vom gewohnt deftigen Galgenhumor. Bei Zeilen wie „Ya-ha ha, ho ho ho, shipped your Job to Mexico“, die Biafra grinsend, feixend und spuckend abfeuerte, dürften viele Fans zwischen Amüsement und Frust geschwankt sein. Wer ein Dead-Kennedys-Nostalgie-Programm erwartet hatte, wurde mit wenigen Zugeständnissen abgespeist. Kritikern, die Biafra immer wieder Rockstar-Allüren und das Ausbremsen anderer Ex-Kennedys bei den Tantiemen für das gemeinsame Werk vorwerfen, wurde so der Wind aus den Segeln genommen.

Doch im SO 36 war das Publikum ohnehin auf der Seite des leicht Angegrauten, der in seiner äußerlichen Unscheinbarkeit mit Schmerbauch, Schlabberjeans und T-Shirt ein wenig an Pink-Floyd-Gitarrist David Gilmour erinnerte. Umso extrovertierter ging der Bühnenvirtuose Biafra zu Werke. Als er nach der einleitenden Feedback-Orgie, die an seine zeitweiligen Mitstreiter The Melvins gemahnte, zum Bühnenrand hechtete, empfingen ihn die Fans mit einer gigantischen Bierdusche.

Turbulent blieb es während der restlichen 90 Minuten. Mitten in der Dead-Kennedys-Hymne „California über alles“ sprang Biafra in die Menge und sang den Refrain gemeinsam mit den Fans, um anschließend in ironischer Führerpose die Utopie eines Zen-faschistischen Regimes zu verkörpern. Auch US-Außenministerin Hillary Clinton und Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger („ein Haufen Hühnerkacke“) wurden Opfer von Biafras gellendem Spott und zuckend-grotesken Pantomimeeinlagen.

Wie wäre es wohl gekommen, wenn es Biafra als Präsidentschaftskandidat der Green Party im Jahr 2000 ins Weiße Haus geschafft hätte? Zum Glück scheiterte seine Nominierung, möchte man meinen. Sonst könnte er kaum noch auf einer Lautsprecherbox hocken, sich von einem weiblichen Fan den Unterschenkel kraulen lassen und gegen substanzlose Karriere-Politiker („I won’t give up“) oder die Nachwehen der Bush-Ära wettern. Und doch: Etwas Präsidiales hatte Biafras Berliner Stippvisite dann doch. Schon wegen seines moralischen und politischen Anspruchs, der ihn am deutlichsten vom, sagen wir, typischen Alk-Punk unterscheidet. Und dieser Anspruch spiegelte sich nicht nur in diversen Voting-Aufrufen in den USA wider, sondern auch in der Kreuzberger Performance. Gegen deren Echo ist jede Lärmschutzwand machtlos.

NILS MICHAELIS