: Die Welt in einer Klangschale
UR-MUSIK David Robertsons BBC Symphony Orchestra eröffnete glanzvoll das Musikfest. Schostakowitsch, Xenakis und Haydn bilden in den nächsten Tagen die Schwerpunkte
VON KATHARINA GRANZIN
Einen passenderen Einstieg hätte man nicht finden können ins diesjährige Musikfest. Im vergangenen Jahr beschlossen die Berliner Philharmoniker das Festival mit einem extrem raumheischenden Orchesterwerk, als sie im Hangar des Flughafens Tempelhof Stockhausens „Gruppen“ aufführten. Dieses Jahr kam dem BBC Symphony Orchestra die Ehre zu, das Musikfest zu eröffnen.
Und das tat es, unter dem Dirigat des Amerikaners David Robertson, sehr eindrucksvoll mit einem Werk, das ebenfalls auf der räumlichen Verteilung des Orchesters fußt. Somit teilt es die Grundkonzeption von „Gruppen“ – und ist doch völlig anders geartet. Iannis Xenakis’ „Nomos Gamma“ von 1968 wurde komponiert für 98 Musiker, die sowohl möglichst kreisförmig als auch möglichst gleichmäßig verteilt im Publikum angeordnet sein sollten. Für die Aufführung in der Philharmonie mit ihrem großen zentralen Podium hatte man diese Anforderungen an die Gegebenheiten angepasst: Die Streicher besetzten als geschlossene Gruppe das Podium, während die Bläser, auf halber Höhe vereinzelt im Publikum platziert, einen lockeren Ring bildeten, um den herum, auf den allerhöchsten Rängen, sieben Schlagzeuger in der Runde Platz gefunden hatten, die von hoch oben die Grenzen des Klangraums bestimmten.
Das oft dialogische, nur manchmal monofone, zumeist aber aneinander widerhallende machtvolle Spiel der Pauken und Tom-Toms schafft es gleich zu Beginn des Abends, einen Zauber über das Auditorium zu legen, der noch lange nachwirkt und in der Einsicht – oder der Einbildung – besteht, inmitten einer klingenden Schale zu sitzen. Es ist geradezu, als seien die Wände selbst das Instrument, als sei man dabei, wie in der tönenden Kalebasse, zu der die Philharmonie während dieser 20 Minuten wird, die Musik selbst erfunden wird.
Und so wie man frei ist, im Sirren, Zirpen, Schurren und anderen Streicher-Tuttiklängen Insekten- und Vogelschwärme zu hören und in einzelnen Bläsersoli Bäume und Landschaften wachsen zu sehen, so ist man ebenso frei für alles andere, da man ja eben dabei ist, wie die ganze Welt aus Klang entsteht.
Und während man nach der anschließenden Umbaupause noch mit neugestimmtem Innenohr dasitzt und sich fragt, was denn überhaupt nach einer solchen Ur-Musik gespielt werden könnte, da heben die tiefen Streicher an mit einer ganz sachten Ruderbewegung. Lento. Rachmaninows „Toteninsel“ steigt auf, unterirdisch schön.
Und es ist kaum zu glauben, wie diese hochromantische symphonische Dichtung, komponiert von einem musikalischen Traditionalisten der vorletzten Jahrhundertwende, der mit der Avantgarde seiner Zeit nichts zu tun haben wollte, organisch aus dem noch nachhallenden Klangraum erwächst, den einer der großen Klangerneuerer des 20. Jahrhunderts doch erst 60 Jahre später schuf.
Hinter dieser grandiosen musikalischen Symbiose muss die zweite Konzerthälfte zurückbleiben. Doch bietet auch das zweite dargebotene Xenakis-Werk „Aïs“ („Hades“) Staunenswertes; vor allem die Leistungsfähigkeit der menschlichen Stimme betreffend. Die Solisten Leigh Melrose (ein Bariton, der seine mörderische Sangespartie überwiegend im Falsett absolvieren muss) und Colin Currie (Percussion) ernten für ihre hochvirtuosen Darbietungen Ovationen und Blumen und freuen sich sehr. David Robertson, der am Ende auch einen Strauß bekommt, gibt ihn bescheiden weiter an die nächststehende Dame, die ihn ihrerseits weiterreicht, so geht er von Hand zu Hand, bis er irgendwo in den Tiefen des Orchesters verschwindet.
Ganz zum Schluss gab man übrigens Schostakowitschs „9. Symphonie“ – ein im Kontext des Vorangegangenen eigenartig diesseitiges, ironisch beschwingtes Finale, das weniger zum Rest des Abends passt, als dass es einen Ausblick gibt auf das, was das Berliner Konzertpublikum in den kommenden Wochen erwarten darf. Von Schostakowitsch werden auf dem Musikfestes 11 seiner 15 Symphonien zu hören sein, zudem die Suite für Jazzorchester und zwei weitere Werke. Auch drei weitere Xenakis-Kompositionen wird man hören können, unter anderem das Chorwerk „Nekuia“, das der Lettische Rundfunkchor zusammen mit dem Konzerthausorchester Berlin am kommenden Donnerstag aufführt.
Der dritte Schwerpunkt des Festivals liegt auf dem Werk Joseph Haydns – und einen seiner Höhepunkte stellt sicherlich die Aufführung von Haydns „Jahreszeiten“ durch den Berliner Rundfunkchor und die Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle dar. Auch Thomas Quasthoff wird dabei sein.
www.berliner-festspiele.de