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Archiv-Artikel

Wie bei der Treibjagd

61 Jahre nach dem Massaker in Sant‘ Anna urteilt heute ein italienisches Gericht über die Männer der 16. SS-Panzergrenadier-Division. Der Hamburger Hauptbeschuldigte macht sich „keine Vorwürfe“

Aus La Spezia Andreas Speit

Die Anklagebänke sind leer. Keiner der Beschuldigten ist vor dem Militärgericht in La Spezia erschienen. Seit über einem Jahr verhandelt das Gericht in der Hafenstadt gegen zehn ehemalige Angehörige der 16. Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“. Die italienische Staatsanwaltschaft wirft den deutschen Rentnern vor, an dem Massaker in Sant‘Anna di Stazzema beteiligt gewesen zu sein.

Heute soll das Urteil im etwa 40 Kilometer entfernten La Spezia verkündet werden. Der Hauptbeschuldigte Gerhard Sommer aus Hamburg wird zur Verkündung nicht erwartet. „Ich habe mir keine Vorwürfe zu machen“, erklärte der rüstige Rentner gleich zu Verfahrensbeginn der deutschen Presse. Der Staatsanwalt Marco De Paolis wirft dem SS-Offizier und den weiteren SS-Leuten allerdings vor, bei der Tötung von 560 Einwohnern des Dorfes in der Toskana eine „eindeutige Rolle“ gespielt zu haben. Das Plädoyer verfolgten die Angehörigen der Opfer unter Tränen.

Als De Paolis für alle Angeklagten wegen „mehrfacher schwerer Tötung“ eine lebenslange Freiheitsstrafe forderte, applaudierten sie. In den frühen Morgenstunden des 12. August 1944 war die vierte Kompanie der SS-Einheit, angeführt von Sommer, in Sant‘Anna eingefallen. Binnen vier Stunden hatten sie 440 Männer und Frauen sowie 120 Kinder erschlagen, erschossen oder verbrannt. „Da hat‘s geheißen: ‚Umlegen, den ganzen Verein!‘“, berichtete ein früherer SS-Unterscharführer 2002 einem ARD-Reporter. Und: „Det ist wie bei der Jagd, bei der Treibjagd. Da wurden die Menschen zusammengetrieben vor die Dorfkirche und dann wurde geschossen.“

Die SS riss in der Kirche die Bänke heraus, warf sie auf die Opfer und setzte mit Flammenwerfern alles in Brand. Von den über 30 geladenen Zeugen aus Deutschland sagten nur zwei Ex-SSler aus. Adolf Becker erinnerte sich vor Gericht noch sehr genau und berichtete, dass auf dem Kirchplatz 200 Frauen und Kinder, auf den Knien betend, mit Maschinengewehren erschossen wurden.

Nach 60 Jahren erfuhren so die Angehörigen, wie ihre Lieben starben. Enio Mancini, der als Sechsjähriger das Massaker zufällig überlebte, hofft auf eine Verurteilung der Angeklagten: „Wir wollen keine Rache, sondern Gerechtigkeit.“ Falls ein deutsches Gericht ein Verfahren gegen die SS-Soldaten eröffnet, würden Überlebende kommen. „Wir wollen Herrn Sommer und den anderen ins Gesicht sehen. Wir wollen sehen, ob ihre Augen irgendetwas verraten, ein Gefühl für das, was geschehen ist“, sagt Mancini.

Ob ein deutsches Gericht ein Verfahren eröffnet, ist nicht absehbar. „Die Ermittlungen sind nicht abgeschlossen“, erklärt eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Seit 2002 verfolgen sie über zehn SS-Leute, die an dem Massaker beteiligt gewesen sein sollen. Die Hamburger Staatsanwaltschaft gab den „Fall Sommer“ ab, da Stuttgart schon ermittelte.

Anders als vor einem Militärgericht, erklärt die Sprecherin, „muss den einzelnen Tätern eine direkte Tatbeteiligung nachgewiesen werden“. Trotz Verurteilung in Italien könnte Sommer, der seit fast 40 Jahren mit seiner Frau in einem weißen Einfamilienhaus mit gepflegtem Garten in einer ruhigen Wohnstraße lebt, in Deutschland freigesprochen werden. Den Nachbarn ist der Mitte-80-Jährige als „netter Mann“, der „kein Fest auslässt“, bekannt.