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Archiv-Artikel

Lautsprecher groß wie Häuser

CHINAS DICHTER Im Chaos schwimmen wie ein Fisch, das hat Yan Jun, Dichter und Noisemusiker, in Peking gelernt. Heute liest er in der „Langen Nacht der Poesie“ in Berlin

Nie käme Yan Jun auf die Idee, seine Landsleute als Konsumenten abzustempeln, die weiter nichts im Kopf haben als ihre Arbeit und wie man das verdiente Geld möglichst schnell wieder loswird

VON SUSANNE MESSMER

Wie er da mit seinem schlabbrigen Hemd überm Shirt und mit diesem typisch chinesischen Minimalaufwand über den Innenhof der Berliner Kulturbrauerei schlappt, lässig die Hand zur Begrüßung hebend: das wirkt schon äußerst weltmännisch. Kein Zweifel: Der Pekinger Yan Jun, meist als Poet, Experimentalmusiker, Essayist und Kulturveranstalter in Personalunion unterwegs, ist at „home in the world“. Denn in der Welt, da geht es auch nicht verrückter zu als zu Hause, scheint sein buddhistisches Lächeln zu sagen, das er zu keiner Sekunde des Gesprächs ablegt.

Wir treffen uns im Soda, einem zu dieser frühen Stunde menschenleeren Club gegenüber der literaturWERKstatt, die Yan Jun zum Poesiefestival in Berlin eingeladen hat. Welche Gedichte er lesen wird, das weiß er im Moment gar nicht genau, murmelt er und kratzt sich am Kopf. Eines der wenigen überhaupt von ihm ins Deutsche übertragenen Gedichte heißt „Charta, ein Sonett“, alternativ „Charta 09“, und stammt aus dem Jahr 2008, als in Peking die Olympischen Spiele stattfanden. Darin heißt es: „Ich fordere, dass in der Ferne zwei Lautsprecher gebaut werden groß wie Häuser und dass inmitten einer Postkartenidylle Lärmkonzerte veranstaltet werden ohne Zuhörer.“ Und: „Ich fordere das Verbot von Ma-Jongg und Karaoke-Bars, die Inhaftierung aller Hundehalter, die um fünf Uhr morgens ihren Hund spazieren führen, und die regelmäßige Durchführung von Lyriklesungen auf allen Polizeirevieren.“

„Ich habe mein Gedicht so genannt, weil ich mich abgrenzen wollte von der Generation Liu Xiaobos“, sagt Yan Jun, abgrenzen von jenem Systemkritiker und Menschenrechtler also, der das Bürgerrechtsmanifest „Charta 08“ geschrieben hat, noch immer im Gefängnis sitzt und 2010 den Friedensnobelpreis verliehen bekam. Yan Jun findet ein gutes Bild für den Zustand dieser Generation, die auch als verlorene gilt, da der 4. Juni 1989 aus dem kollektiven Gedächtnis vor allem der jungen Generation erfolgreich gelöscht wurde. „Sie sind moralisch und politisch wirklich im Recht“, sagt Yan Jun mit großem Respekt, „aber ihr Denken gleicht einer kaputten Vinylplatte. Der 4. Juni ist ihr großer Kratzer, und die Tonspur kurz vor dem Kratzer wird immer und immer wiederholt. Sie wissen nicht mehr, was in der Gegenwart vor sich geht.“

Yan Jun, geboren 1973, war 16 Jahre alt, als am 4. Juni 1989 auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens die Demokratiebewegung niedergeschlagen wurde. Er gehört zu einer Generation von Künstlern und Lebenskünstlern in Peking, die das Politische ganz anders definieren als die Älteren. Ohne dass er dafür Opfer bringen musste, konnte er einen Stil leben, der vor 1989 kaum möglich war: vergleichsweise zwanglos, ohne festen Job, in einer Nische, die in China wenige interessiert, mit prekärer ökonomischer Grundlage, dafür aber auch minimaler Kontrolle durch sämtliche Autoritäten von Elternhaus bis Vater Staat. Er wurde, was er heute ist: ein unabhängiger Kopf, der sich nichts sagen lässt und den Kontakt zur „wirklichen Wirklichkeit“ da draußen, zu den Leuten und ihren Problemen, sucht.

Was wirklich im China der Jetztzeit vorgeht: das ist es, was Yan Jun zu seiner Arbeit inspiriert, zu seinen Gedichten, aber auch zu seinen Feldaufnahmen, zum Noise, den er immer wieder mitschneidet und auf seinem hauseigenen Label Sub Jam veröffentlicht. Dafür, sagt er, ist er sogar bereit, täglich den Bus zu nehmen – eine Herausforderung in der Millionenmetropole Peking. Sosehr sich Yan Jun durch seine Lebensweise dem chinesischen Alltagswahnsinn entzieht, so wenig stellt er sich doch über ihn. Nie käme er auf die Idee, seine Landsleute als Konsumenten abzustempeln, die nichts weiter im Kopf haben als den täglichen Weg zur Arbeit und wie man das verdiente Geld auf möglichst schnellem Weg wieder loswerden kann. China ist ein widersprüchliches Land, man muss sich immer wieder davor hüten, sich an einfachen Erklärungsmodellen festzukrallen.

Wie war das für Yan Jun in Peking letztes Jahr, als der chinesische Künstler Ai Weiwei eine Zeit lang eingesperrt war und man immer wieder zu lesen bekam, in China sei eine neue kulturelle Eiszeit angebrochen? Yan Jun muss lachen. „Es ist ein Auf und ein Ab“, sagt er, und wieder wundert man sich über sein buddhistisches Grinsen. „Mal ist es besser, mal ist es schlechter, aber ich habe keine Ahnung, welche Ursachen das jeweils hat. Ich würde verrückt, wenn ich versuchen würde, das zu verstehen“, sagt er. Yan Jun hat es längst aufgegeben, alles einordnen zu wollen. Wahrscheinlich befähigt ihn genau das dazu, im Chaos zu schwimmen wie ein Fisch – und so viele tolle und abseitige Dinge auf einmal zu tun.

■ Yan Jun auf dem Poesiefestival Berlin, www.poesiefestival.org