Windiger Gesang

NOTIZBUCH Mit Robert Gernhardt gesprochen: Bemerkung zu Grass

taz-Leser Harald Kreuzer schickte uns in Sachen Günter Grass einen Hinweis zu, den wir hier gerne weitergeben. Kreuzer:

„In einer Vorlesung mit dem Titel ’Was das Gedicht alles kann‘ attestiert der viel zu früh verstorbene Robert Gernhardt bereits 2002 Günter Grass sein Unvermögen, ein ordentliches Sonett zu verfassen.

Gernhardt bezieht sich auf vier Gedichte, die Günter Grass 1994 an die Literaturzeitschrift Akzente mit folgendem Begleittext schickte: ‚Die Sonette zum Thema Novemberland wurden ausschließlich durch die Wiederkehr des Rassismus provoziert. Das Aufbrechen von Gewalt und das landesweite Schweigen, die ohnmächtigen Proteste, die politische Ausbeutung des gesunden Volksempfindens und die durch Gesetzesänderung eingeleitete erste Bauphase der Festung Europa, diese insgesamt unübersehbare Befindlichkeit verlangte nach der strengen Form. Das Sonett mit seiner strengen Form bot sich an.‘

Nach Ansicht von Robert Gernhardt unterwirft sich Grass mit seinen sogenannten Sonetten aber keinerlei Strenge, keinerlei Zwang. Gernhardt: ’Das einzige was diese Gedichte mit einem Sonett gemeinsam haben, ist die Zeilenzahl 14, ansonsten herrscht schiere Willkür. […] Die Hebungen schwanken von vier bis acht, die Zahl der Ausgangswörter beträgt sechs. Das ist nicht streng. Da herrscht kein Zwang, das ist ein windiger Gesang. Verfertigt nach der goldenen Handwerkerregel: passt, wackelt und hat Luft. Das Ergebnis aber ist ein Produkt, für welches sich ein formstrenger Poet eigentlich schämen müsste.‘

Nun kann man darüber streiten, wie die Aussagen des neuerlichen Gedichts von Günter Grass zu verstehen sind. Fest steht, dass Grass gut daran täte, sich nicht weiterhin vergeblich an Gedichten abzuarbeiten.“

So weit dieser schöne Hinweis auf Robert Gernhardt. Nun ist Grass’ Gedicht „Europas Schande“ kein Sonett, aber auch es folgt erkennbar der Regel „Passt, wackelt und hat Luft“, und so stellt sich die Frage, ob Provokationen durch die Wirklichkeit tatsächlich windige Gesänge rechtfertigen, auch hier. Bei Grass ist das leider, zumindest wenn man ihn literarisch ernst nimmt und nicht politisch diskutiert, schon lange die Kernfrage. Nachzuhören ist die Vorlesung auf der im Hörverlag unter dem Titel „Was das Gedicht alles kann: Alles“ erschienenen CD. drk