Tragödie von Grund und Geschichte her

Als Umwegzeuge in „Literaturen“: Peter Handke macht seine Aussage im Prozess gegen Slobodan Milošević

Erst zögerte er, dann wollte Peter Handke im Prozess gegen Slobodan Milošević in Den Haag doch nicht aussagen. Der ehemalige jugoslawische Präsident hatte ihn auf eine Liste zu befragender Zeugen der Verteidigung gesetzt. Als „Expertenzeuge“ hätte Handke jedoch vorab eine schriftliche Stellungnahme abgeben müssen, die verwertbare Fakten enthalten sollte. Das konnte und wollte er nicht liefern. Stattdessen hat er sich zum „Umwegzeugen“ erklärt und einen langen Essay geschrieben, der nun unter dem Titel „Die Tablas von Daimiel“ in der Zeitschrift Literaturen erschienen ist – unbenutzbar vor Gericht, aber doch, so seine Hoffnung, nicht völlig nutzlos: „Je unbenutzbarer, desto besser. Je weniger es offenbar oder unmittelbar mit Anklage oder Verteidigung zu schaffen hat, desto mehr drängt es mich.“

Peter Handke drängt es schon seit bald zehn Jahren, seine Sicht der Ereignisse auf dem Balkan der offiziellen Geschichtsschreibung entgegenzuhalten. „Gerechtigkeit für Serbien“ forderte er im Jahr 1996 und entfachte damit ein ungeheures Medienecho. Gerechtigkeit bedeutete für Handke vor allem, das Land, über das so viel berichtet wurde, zu besuchen – abseits des Kriegsgetümmels. Indem er über Landschaften und die Menschen in der Provinz schrieb, wollte er das vorherrschende Pauschalurteil gegen die Serben als Kriegstreiber in Zweifel ziehen. Fortan galt er als proserbischer Romantisierer oder gar als durchgeknallter Milošević-Freund. Die deutsche Öffentlichkeit zeigte sich wenig liberal: In Zeiten des Krieges hat jeder, der sich der einfachen Frontziehung verweigert, kübelweise mit Häme zu rechnen.

„Wer hat die Priorität der Weltwahrnehmung?“, schreibt Literaturen nun im Vorspann zum Handke-Essay. „Sind es die Medien, die für sich in Anspruch nehmen, die Welt zu konstruieren? Oder ist es der Dichter, der den medienvermittelten Bildern seine poetischen Gegenbilder entgegensetzt?“ Es geht also um eine andere Art der Wahrheitsfindung, als sie im Gericht in Den Haag verhandelt werden kann. Kein Zufall, dass Handkes Essay in einer Literaturzeitschrift erscheint – und eben nicht in einem der großen Feuilletons der Republik. Es ist ein seltsam mäandernder Text, der immer wieder neu einsetzt, mit vielen Klammereinschüben, sprechenden Details und kleinen Anekdoten: eher ein Stimmungsbericht in eigener Sache als eine in Thesen aufzulösende Expertise.

Trotzdem gibt es einige harte programmatische Aussagen. Handke hält das Tribunal in Den Haag grundsätzlich für verfehlt. Milošević gehöre zwar durchaus vor ein Gericht – aber nicht vor dieses, das von den Nato-Mächten als eine Art Gerechtigkeitswelttheater eingesetzt wurde. Welches Gericht aber zuständig sein könnte, verrät er nicht – ein menschliches kann es kaum sein. Denn Milošević ist für Handke bloß eine tragische Figur, wenn er ihn als „Protagonisten einer Tragödie von Grund und Geschichte her“ bezeichnet. Auf dem Balkan sei „eine Höllenmaschine in Gang gekommen, welche von innen her, von den einzelnen Regionen, Tälern und Schluchten, nicht zu stoppen war, von keiner Macht, von keiner Person.“ So versickert Milošević’ Schuld in der unendlichen Geschichte.

Milošević ist die große Leerstelle im Zentrum. Handke berichtet von einem Besuch bei ihm im Gefängnis in Scheveningen. Milošević verpflichtete ihn schriftlich, nichts verlauten zu lassen von den Haftbedingungen, dem Gesundheitszustand, der geistigen Verfassung und der äußeren Erscheinung des Gefangenen. Man erfährt also nicht, was Milošević sagte, sondern nur, wie er auftrat: in einer Mischung aus Privat und Öffentlich, durchaus einnehmend, doch ziemlich egomanisch. Handke kam dabei überhaupt nicht zu Wort. Er hätte gerne ein paar Fragen gestellt, Abseitiges, Nebensächliches, nur um den Mann für einen Augenblick aus seiner manischen Überzeugungstätigkeit zu erlösen. Handke macht kein Geheimnis daraus, von diesem Auftritt in einem übrigens lichtdurchfluteten Büroraum, der Milošević zur Verfügung steht, irritiert gewesen zu sein. Ähnliches lässt sich auch über sein eigenes fortgesetztes Sprechen über Serbien sagen: Es ist der Sprachstrom eines Besessenen, der die Ruhe sucht und nicht zur Ruhe kommen kann. JÖRG MAGENAU