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Archiv-Artikel

Räder futsch, Bremsen Schrott

Die Berliner Verkehrssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) zeigte sich fassungslos: „Wir waren entsetzt, als wir das hörten.“ Noch am Montag hatte sie mit dem Personenvorstand der Deutschen Bahn AG, Ulrich Homburg, über Fahrgastentschädigungen für das sommerliche Chaos bei der Berliner S-Bahn, eine Tochter der DB AG, verhandelte. Dann platzte am Montagabend die Bombe: Wegen Sicherheitsproblemen an den Bremsen mussten drei Viertel aller Züge sofort aus dem Verkehr gezogen werden.

Innerhalb von wenigen Monaten ist die Berliner S-Bahn für die größten Ausfälle in der Geschichte des deutschen Nahverkehrs verantwortlich. Erst waren die Räder morsch, jetzt sind die Bremsen Schrott. Nur durch ein Zufall kam es bislang nicht zu einem Unfall, bei dem Menschen ernsthaft geschädigt wurden.

Schuld an dem Desaster ist Experten zufolge der geplante Börsengang der bundeseigenen DB AG. Um diese dafür hübsch zu machen, musste die Berliner S-Bahn in den vergangenen Jahren immer höhere Gewinne an den Mutterkonzern abführen. Das ging zu Lasten von Service, Pünktlichkeit, Sauberkeit – und Sicherheit. Allein 2009 sollte die S-Bahn nach Betriebsratsangaben knapp 88 Millionen Euro Gewinn abführen, 2010 sollte es ein dreistelliger Millionenbetrag sein. Die Folge: eine beispiellose Rationalisierung. Personal wurde abgebaut, Werkstätten geschlossen, Ersatzzüge verschrottet, Waggons seltener gewartet – alles, um Kosten zu sparen.

War es bei den morschen Rädern noch umstritten, ob es sich um ein Herstellungs- oder Instandhaltungsproblem handelt, räumt die Bahn bei den Bremsen jetzt Wartungsfehler ein. „Auch bei Bremszylindern wurden die Wartungsintervalle gestreckt“, sagt Hans-Joachim Kernchen, Berlin-Brandenburg-Chef der Lokführergewerkschaft GDL. „Ich frage mich: Welche Leichen hat die Bahn noch im Keller?“ Die S-Bahn gebe es seit 80 Jahren, und sie habe einmal als vorbildliches Nahverkehrssystem gegolten. „Wegen des geplanten Börsengangs wurde das alles in drei, vier Jahren heruntergewirtschaftet.“ RICHARD ROTHER