piwik no script img

Archiv-Artikel

Weit weg von Himmel und Elternhaus

INNENLEBEN Lisa Kränzler erzählt in ihrem Romandebüt „Export A“ von einer Adoleszenzkrise in Eis und Schnee

Gewissensbisse plagen sie, Sündenbilder verfolgen sie, trotzdem will Lisa mehr

VON SOPHIE JUNG

Burn, burn, yes ya gonna burn.“ Diesen hasserfüllten Worten eines Zack de la Rocha, des Sängers der Crossover-Band Rage Against the Machine, hört Lisa häufig zu, während sie mit dem Walkman durch die verschneite Einsamkeit Nordkanadas läuft. Ein Jahr soll die 16-jährige Schülerin aus wohlbehüteten deutschen Verhältnissen in dieser Ödnis verbringen. Ein Jahr, in dem die Wut langsam zu ihrer eigenen wird.

Lisa Kerz heißt die Protagonistin, und Lisa Kränzler heißt die Autorin des Romans „Export A“. Darin lässt die reale Lisa die andere, fiktive Lisa ihre Erlebnisse aus diesem Jahr aufzeichnen. Mit einer Montagetechnik aus Rückblenden und Betrachtungen aus der Gegenwart webt die 28-jährige Autorin ein Psychodrama zusammen, das präzise in das aufgewühlte Innere einer jungen Frau blicken lässt. Für ihr Erzähldebüt wählte Lisa Kränzler, bildende Künstlerin aus Freiburg, die Namensvetternschaft als schriftstellerische Technik. Nur so, sagt sie in einem Interview, habe sie die psychische Nähe zu ihrer Figur entwickeln können, nur so fand sie ihre eindringlichen Beschreibungen, in denen sie die arktische Einsamkeit und die Langeweile eines Ortes, wo „Himmel und Horizont weit sind und das Elternhaus noch weiter“, allmählich in die erdachte Lisa dringen lässt.

Zu Beginn lebt Lisa noch im Schutz ihrer älteren Schwester. Diese ist in Kanada ihre Bezugsperson. Mit ihr geht sie sonntags in die Kirche, in der ein Höllenrhetoriker, Pastor Leroy, seine archaischen Glaubensvorstellungen in die Gedankenwelt der jungen Frau einfließen lässt. Gewissensbisse plagen sie, Sündenbilder verfolgen sie, trotzdem will Lisa mehr. Die Songs von den Deftones, von Tool und The Offspring sowie der Rap von DMX und Dr. Dre, die sie im Laufe ihrer Aufzeichnungen zitiert, vertonen ihr Streben nach Zerstörung und nach Wut, nach Alkohol, Drogen und Sex.

Grenzen austesten

Das alles findet sie, als sie bei einer Party-WG andockt. Die nächsten Monate wohnt sie mit drei Jungs – Schwänzer, Kiffer, Kleindiebe – zusammen. Ihre Schulbesuche werden rarer, und auf Kirchgänge verzichtet sie ganz. Stattdessen „kümmere ich mich um nichts mehr als die Jungs. Ich schwebe durch die Wochen und überlasse es meinem Körper, die Sonnenauf- und Sonnenuntergänge zu zählen.“

Es sind feinsinnige Beobachtungen, in denen die Autorin das widersprüchliche Innenleben einer jungen Frau porträtiert, die zwischen Fragilität, Schutzlosigkeit und einem trotzigen Austesten ihrer Grenzen schwankt. Lisa Kränzler gibt ihrer Protagonistin eine Sprache, deren Fülle von Metaphern eine komplexe Gefühlswelt offenbart. Mit intelligenten Bilderfindungen illustriert sie die teils detaillierten und teils großformatigen Selbstreflexionen der Lisa, wenn sie mit „wirbelnden Kopfrädchen in der höchsten Umdrehungsfrequenz“ die Kirche betritt oder den „Geruch billigen Schnapses auf dem Rücken ihrer Frage reiten“ lässt. Es ist die Sprache, die immer wieder packt und fasziniert, deren man manchmal aber auch überdrüssig wird. Zu sehr beschränkt Kränzler ihr smartes Bildspiel auf die Empfindungen der Protagonistin.

Das Resultat ist anspruchsvoll und entwickelt seine Raffinessen aus der Selbstbezogenheit der Ich-Erzählerin. Das ist bei allen Stärken auch bedauerlich, denn gerade die Nebenfiguren der Geschichte sind interessant: Indianer, die morgens entlang der Avenue in ihrer Kotze liegen, Eltern, die ihrem 16-jährigen Sohn nachts den Eintritt ins Haus verwehren, oder ein ungarischer Boxer, der seinen Sport zugunsten eines Jobs als Gefängniswärter aufgibt. Nur als Beiwerk spannt Kränzler diese Charaktere um ihre Adoleszenztragödie.

Tiefe Schuld

Dennoch schafft sie es, ihre Erzählung mit einer eindringlichen Stimmung zu nähren. Vor die ständige Kulisse einer in Eis und Schnee erstarrten Landschaft setzt Lisa Kränzler eine perspektivlose Gesellschaft, die in Alkoholismus oder fundamentale Religiosität flieht. Dass in dieser Szenerie, in der selbst Pastor Leroys Kirche nur aus einem Trailer besteht, die Erfahrungen der Protagonistin eine bittere Wendung nehmen müssen, ist erwartbar. Eines Abends, während ihre Partyjungs nebenan feiern, wird Lisa in ihrem Zimmer vergewaltigt. Niemand erfährt etwas, niemandem erzählt sie etwas, trotzdem fühlt sie: „Jeden Tropfen meines Blutes will ich filtern, jede Ecke meines Inneren ausbürsten. Hilft alles nichts. Einem Spinnentier gleich hat er seinen weißen Faden in mich gelegt und keimendes Leben hinterlassen.“

Am nächtlichen Tiefpunkt ihres Kanada-Aufenthaltes wendet sich ihre Verletzung in eine blutige Wut, und Lisa lädt tiefe Schuld auf sich. Die düsteren Prophezeiungen des Pastors sind an ihr wahr geworden, so lautet die Erklärung des Mädchens. In dieser moralischen Logik endet der Roman: Als Unschuldige kam sie, und als Sünderin geht sie. Und die sprachliche Kraft, mit der Lisa Kränzler diese Geschichte beglaubigen kann, ist, alles in allem, bewundernswert.

Lisa Kränzler: „Export A“. Verbrecher Verlag, Berlin 2012, 220 Seiten, 21 Euro