Die EM aus holländischer Sicht
: Ironisches Grölen in Orange

Merlijn Schoonenboom

Es geschah im Sommer 2010, als das WM-Finale zwischen den Niederlanden und Spanien seinem Ende entgegenging. Wir guckten das Spiel an einem typischen Mitte-Ort, wo die Leute Brillen mit schwarzen Hornfassungen tragen und „irgendwas mit Medien“ machen, Niederländer, Spanier, Deutsche, friedlich Seite an Seite.

Etwa 15 Minuten vor Schluss sprang zwei Reihen vor mir jemand aufgeregt auf. Er trug einen orangefarbenen Overall, seine Wangen waren rot-weiß-blau bemalt, und selbst seine Pelzstola trug die Farben der niederländischen Flagge. Ich erkannte in ihm einen niederländischen Bekannten, sonst ein eher zurückhaltender Typ.

Lauthals fing er an ein Lied zu grölen, das alle meine Landsleuten kennen. Es besingt nicht nur den Untergang der deutschen Mannschaft, sondern den Untergang der Deutschen im Allgemeinen. Ein anderer Holländer im gleichen orangefarbenen Overall fiel in seine Arme und sang sogleich mit.

Natürlich, zwischen all den Mitte-Kreativtypen war ihr Gesang ironisch gemeint, aber trotzdem nicht ohne Bedeutung. Aufregung über die Länderspiele gegen Deutschland gehören seit Jahrzehnten zum guten Ton der niederländischen Folklore. Obwohl meistens die deutsche Mannschaft gewinnt, ist allgemeine Auffassung, dass eigentlich Holland gewinnen sollte. Warum? „Weil wir schönen Fußball spielen“, sagt man dann mit fester Überzeugung.

Tatsächlich ist es auch einmal gelaufen, wie es theoretisch sein sollte: 1988 schlug Holland Deutschland im EM-Finale. Ich war 14 Jahre alt und staunte über das, was anschließend passierte. Mein Onkel, ein Professor, kutschierte mich auf der Motorhaube seines Autos durchs Dorf, umwickelt mit einem orangefarbenen Schal. Ich sollte jubeln und winken – obwohl ich schon damals im Orange-Jubel nicht der Beste war.

Auf den ersten Blick hat sich bei der EM 2012 nicht viel geändert. Die kollektiven Aufregung ist eher noch mehr geworden. Die Berliner Fanmeile ist nichts gegen das, was jetzt schon in Holland zu sehen ist, ganze Stadtviertel werden in das schillerndste Orange gehüllt. Es gibt Soziologen, die eine direkte Beziehung zwischen den aktuellen politischen Entwicklungen und den Aktivitäten der Fußballfans sehen: Je mehr gezweifelt wird über die „niederländische Identität“ im Allgemeinen, desto mehr Leute hüllen sich zu Länderspielen in die orange Tracht.

Aber nicht alles ist gleich geblieben. Ausgerechnet das alte „Anti Deutschland“-Ritual scheint 2012 seinen vertrauten Glanz verloren zu haben. Nicht nur, weil Deutschland heute populärstes Urlaubsziel geworden ist, und nicht nur, weil Merkel in Holland so populär ist wie in Deutschland. Sondern auch, weil die WM 2010 etwas am sorgfältig aufgebauten niederländischen Weltbild verändert hat.

2010 war das Jahr, als die Chancen der Holländer auf einen WM-Sieg endlich wieder in greifbare Nähe gerückt waren – dank einer Taktik, die bei uns jahrelang voller Abneigung „typisch deutsch“ genannt wird: hässlich, aber effektiv. Dagegen schien die deutsche Mannschaft selbst eher „typisch niederländisch“ zu spielen: schön, aber am Ende ergebnislos. Damit hat das traditionelle Anti-Deutschland-Sentiment in den Niederlanden eines seiner wichtigsten Argumente verloren. Für Holländer in Berlin macht es das eigentlich nur noch interessanter: Man kann für beide Mannschaften jubeln.

Obwohl das natürlich wieder neue Probleme mit sich bringt: Was tut man bei einem wichtigen Spiel wie heute mit der jahrzehntelang gepflegten Folklore? Ach, man kann ja immer noch ironisch singen, in Mitte. Vielleicht sollte ich meinen Bekannten schon mal fragen, ob er noch irgendwo einen orangefarbenen Overall liegen hat.

Merlijn Schoonenboom ist Berlin-Korrespondent von De Volkskrant seit 2009