Diese Mitte ist leer und schön!

HAUPTSTADT Stiftet euren Sinn woanders! Die freie Fläche auf dem Berliner Schlossplatz hat Charme. Sie sollte erhalten bleiben

■  Leere herrschte schon einmal auf dem Schlossplatz. 1950 ließ die DDR das barocke Berliner Stadtschloss sprengen.

■ Der Bundestag entschied 2002, den Palast der Republik endgültig abzureißen und das Stadtschloss als sogenanntes Humboldtforum wieder aufzubauen. Zudem sollte die Fassade in der einstigen barocken Formensprache rekonstruiert werden. All diese Entscheidungen waren und sind höchst umstritten.

■ Die Kosten des Bauvorhabens legte der Bundestag 2007 auf maximal 552 Millionen Euro fest.

■ Im Herbst 2008 fiel die Entscheidung für den Entwurf des Architekturbüros Francesco Stella und dafür, den Bau 2010 zu beginnen. Bis dahin sollte die freie Brache als Grünfläche dienen.

■ Erneut Gegenwind erhielt das Vorhaben im Sommer 2009. Der Berliner Architekt Hans Kollhoff hatte die Überprüfung von Stellas Teilnahmeberechtigung gefordert. Freitag erklärte das Bundeskartellamt den Vertrag mit Stella für ungültig. (rola)

VON DIRK KNIPPHALS

Gras ist über den Platz gewachsen, auf dem zuletzt der Palast der Republik stand und einst das Stadtschloss der Hohenzollern. Diese Feststellung ist jetzt noch nicht einmal symbolisch gemeint. Wo früher Herrschaftsgebäude waren, gibt es jetzt wirklich Rasen. Und das sieht gut aus.

Überhaupt sitzt man sehr angenehm in der derzeit leeren Mitte der deutschen Hauptstadt. Der Bezirk hat zwischen den Rasenstücken breite Holzstege anlegen lassen. Und es gibt auch eine lange Holzbank, auf der man sein Gesicht in die Sonne halten kann oder Touristen beim Blättern in Stadtplänen zugucken. Es hat nämlich zuletzt ein paar schöne, spätsommerliche Tage gegeben. Auf dem Rasen spielen gerade zwei Männer mit nacktem Oberkörper Frisbee. Pärchen sitzen auf ihren Jacken. Der Platz wurde schon den ganzen Sommer über gut angenommen. Manchmal nervten Bühnen und Buden von öffentlichen Radioübertragungen. Aber meistens wurde er als kleiner Park inmitten der Großstadt genutzt.

Das Gefühl, das man hat, wenn man hier sitzt, wird getragen von dem Eindruck, mittendrin zu sein – und innerhalb der Mitte doch ein bisschen draußen. Die Gebäude ringsherum bilden ein atemberaubend zusammengewürfeltes Ensemble. Das ist eine Geschichtskulisse, die sich gewaschen hat: von der trutzigen Friedrichwerderschen Kirche bis zum modernen Fernsehturm; von dem tumben wilhelminischen Riesendom bis zum antikischen Alten Museum; von der DDR-Edelplatte bis zum postmodernen Schick des Spreekarrees und des Neubaus des Außenministeriums. Und inmitten dieser steinernen Dokumente kann man auf dem leeren Schlossplatz entspannt flanierenden Menschen zugucken. Hin und wieder ertappt man sich dabei, mit seinem ganz normal modernen Bewusstsein still und nur für sich Oden an Vorübergehende zu dichten; so viele gelebte Lebensentwürfe, die an einem vorüberziehen! Parks sind immer auch Orte zum Träumen.

Aber es wäre selbstverständlich naiv, diesen Platz rein aus dem gegenwärtigen Augenschein heraus zu beschreiben. Das ist ein symbolischer Ort, da kann man nichts machen. Die Geschichte lastet auf ihm wie nichts Gutes, und einige Gesellschaftsbilder tun das auch. In der einen Hälfte des Platzes wurden Kellergemäuer des Schlosses freigelegt. Daneben stehen Schautafeln, sie informieren über die Bebauung seit dem 11. Jahrhundert sowie über aktuelle politische Prozesse der Entscheidungsfindung.

Bald soll auch hier, so lautet weiterhin der Beschluss, schwer was rekonstruiert werden, wie schon in Dresden (Frauenkirche), Weimar (ausgebrannte Anna-Amalia-Bibliothek) und in Potsdam (noch ein Schloss). Alles jeweils besondere Fälle, das stimmt. Und man möchte das komplizierte Debattenfass rund um historische Rekonstruktionen bestimmt nicht noch einmal aufmachen. Aber einmal etwas festhalten, das möchte man in diesen Tagen doch, und sei es nur für den Augenblick: dass die gegenwärtige Realität dieses Schlossplatzes sich gerade gut gegen all diese Symbolik zu behaupten versteht. Als die Abrissarbeiten am Palast der Republik noch im Gange waren, haben konservative Menschen (Christoph Stölz in der Welt) vorausgesagt: Wenn man dieses leere Zentrum Berlins nur auf sich wirken lässt, wird wie von selbst evident werden, dass es unbedingt wieder gefüllt werden muss. Aber das kann man, wenn man hier in diesen Tagen tatsächlich sitzt, so gar nicht bestätigen. Evident? Nein. Ist doch prima hier! Diese leere Mitte hat Charme.

Von der leeren Mitte aus wollte man rufen: Labor Berlin, macht was draus, Leute!

Manchmal entwickelt dieser leere Platz geradezu Schönheit, auf jeden Fall hat er etwas Raumspendendes. Vielleicht kommt die schöne Wirkung auch gerade durch seine Schlichtheit zustande. Weil der Platz nicht mehr sein will, als er ist: ein leerer Platz. Jedenfalls, wenn man hier sitzt, kann einem die Debatte um Mittebebauung, Schlossfassaden und Humboldt-Forum sowieso wie eine leicht farcenhafte Wiederauflage von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ anmuten. In dem Roman, moderner Klassiker und alles (aber im Gegensatz zu den Texten Thomas Manns und Franz Kafkas derzeit leider auch seltsam vergessen), soll das 70-jährige Thronjubiläum des österreichischen Kaisers gefeiert werden. Im Vorfeld werden Kommissionen aus Intellektuellen, Künstlern und Wissenschaftlern gebildet. Ziel ist: eine Idee zu suchen, welche die historische Größe dieser Ereignisse repräsentieren und das große Ganze umfassen kann. Aber sie finden so eine Idee nicht und zerstreiten sich heillos. Das Ganze ist nicht mehr auf einen Begriff zu bringen.

Die tiefe Musil’sche Ironie reicht weit; sie begegnete einem noch bei der Schlossdebatte. Denn da ging es nur vordergründig um Architektur und Stadtentwicklung, in Wirklichkeit schwangen gesellschaftliche Ordnungsfantasien mit. Die Mitte der deutschen Hauptstadt muss, so die Vorstellung, mit etwas Sinnstiftendem gefüllt werden. Nach vielem Hin und Her einigte man sich darauf, kurz gesagt, die Fassaden des alten Schlosses in einer abgespeckten Version wieder aufzubauen. Blieb ein Dilemma: Womit soll man den Raum zwischen den Fassaden füllen? Die eigentlich nur konsequente konservative Fundi-Lösung, sich den Kaiser gleich mit zurückzuwünschen, fiel aus. Für Kunst und Bildung, die üblicherweise für zentrale Sinnstiftungsfantasien herhalten, gibt es in Berlins Mitte schon genügend Raum: Museumsinsel, Humboldt-Uni, etwas weiter weg das Kulturforum. Die Idee, hinter alten Fassaden eine moderne Einkaufs-Mall zu installieren (wie in Braunschweig ausgeführt), erschien zu prollig. Kurz: Genauso wenig wie in Musils Roman über Österreich-Ungarn vorm Ersten Weltkrieg fand man in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts eine Idee, die sinnfällig fürs Ganze, die Mitte stehen könnte. Der Plan, im Humboldt-Forum ethnologische Sammlungen zusammenfassen, ist nur eine immerhin nicht weiter störende Notlösung. Gegen die Präsentation fremder Kulturen kann niemand etwas haben. Aber ein leerer Platz wäre immer noch ehrlicher. Fremd sind wir uns selber!

Überhaupt ist das alles schon ziemlich lustig. Wenn die Schlossdebatte eins gezeigt hat, dann wie unsinnig die Vorstellung ist, eine moderne Gesellschaft könnte eine reale Mitte, ein tatsächliches Zentrum haben; ungefähr so unsinnig wie die Idee, man könnte Lebenssinn oder gesellschaftliche Werte in Flaschen kaufen. Schade, dass neue Konservative wie Jan Fleischhauer sich lieber mit selbst gebastelten linken Popanzen herumschlagen, anstatt darüber einmal nachzudenken.

Und erst recht schade, dass manche Linke es im Gegenzug kaum anders halten. Sie arbeiten sich an einem vermeintlich unvernünftigen Mainstream ab und tun so, als könnten sie einen guten König aus dem Hut zaubern, der Patentrezepte für Weltrettung und endgültige Krisenbewältigungen bereithält. Am einheitlichen Ganzen und an imaginär gefüllten Mitten halten auch sie fest – immerhin wollen sie sie aber nicht mehr real wieder aufbauen wie die konservativen Rekonstruierer ihr Schloss; die Vorstellung, mit neuen Bauten neue Menschen zu generieren, ist gründlich desavouiert, leider bleibt die Vorstellung, man könne mit alt aussehenden Bauten neu Werte begründen.

Soll man jetzt gegen die überkommenen Ordnungsideen schwere diskursive Geschütze auffahren? Soll man Niklas Luhmanns fundamentale Einsicht betonen, dass die moderne Gesellschaft nicht mit Einheit, sondern mit Differenzierung operiert? Soll man Richard Rortys Auffassung stark machen, nach der es „in der einer demokratischen Gesellschaft am ehesten entsprechenden Hochkultur kein feststehendes Zentrum“ gibt? Ach, ein anderes Mal, vielleicht. Wenn man in diesen Tagen in der realen leeren Mitte Berlins auf dem Rasen sitzt, hat man eher Lust, daran zu erinnern, dass es doch ganz gut wäre, mal zu gucken, wie die Leute tatsächlich leben. Und man kann sich nicht helfen – dass sie ohne den Beistand einer gefüllten Mitte an (das Pathoswort, mit dem man als Student sein Erschauern angesichts der Zentrumslosigkeit des Kosmos zu fassen suchte:) transzendentaler Obdachlosigkeit litten, das will einem ganz und gar nicht einleuchten.

Die Mitte muss gefüllt werden? Wieso denn bloß? Ist doch gerade prima hier!

Am vergangenen Wochenende lief im Fernsehen „24h Berlin“. Das war streckenweise sehr berührend. Viele parallele Lebensentwürfe, manche sympathisch, manche eher nicht, manche geglückt, andere eher nicht – und alle strengten sich unglaublich an, ihrem Leben eine eigene Mitte zu geben. Von der derzeit leeren Mitte der Hauptstadt aus möchte man ihnen geradezu anfeuernd zurufen: Labor Berlin halt, macht was draus, Leute!

Dass die Subjekte „immer mehr die Macht und auch die Pflicht haben, ihrem Leben Sinn zu verleihen“, lautet ein Satz des noch viel zu wenig gelesenen französischen Soziologen Jean-Claude Kaufmann. Die leere Mitte hilft einem bei einer solchen Identitätssuche zwar auch nicht weiter. Aber immerhin behindert sie einen auch nicht dabei.

Wer weiß, vielleicht werden die Fassaden ja doch gar nicht gebaut; manche Beobachter wetten bereits wieder dagegen. Es wäre ganz schön, würde auch über die Bebauungspläne Gras wachsen.

Dirk Knipphals hat in Hamburg und Kiel studiert und ist seit 1999 Kulturredakteur der taz in Berlin