: Vom Fliegen und Flüchten
Auch Engel brauchen kleine Hilfen: In „Cirque des Hommes“ ist die Erstürmung des Himmels Programm. Die Berliner Gruppe Gosh will damit den Zirkus neu erfinden
In die Stille hinein, mit der das Publikum im Tipi-Zelt am Kanzleramt den Beginn erwartet, stößt jemand ein Fenster auf und das Meer beginnt zu rauschen. Wie in Zeitlupe noch hüpfen und watscheln im Morgengrauen gebückte Männer in federbesetzten Jacken über die Bühne – wie zutrauliche Rabenvögel, die für einen kurzen Abstecher vom Himmel auf die Erde gekommen sind. Ein Mann balanciert in sich versunken auf einem Seil. Wer jetzt nicht anfängt, vom Fliegen und kleinen Fluchten zu träumen, ist schon hart gesotten.
In ihrem Programm „Cirque des Hommes“ bietet die von Martin van Bracht gegründete Gruppe Gosh einen sanften Einstieg in ein circensisches Abenteuer. In Anlehnung an den legendären Cirque du Soleil gehört Gosh zu einer seit Mitte der Neunzigerjahre aktiven Bewegung, die unter dem Begriff des Cirque Nouveau das Genre aufbrach und mit künstlerisch-narrativen Mitteln nachhaltig aufwertete. Typische Zirkusnummern wie Jonglage und Seilakrobatik werden mit Tanz und Schauspielelementen kontrastiert. Unter der Regie von Evelyne Fagnen bespielt ein männliches Ensemble eine Bühne, die wie im klassischen Zirkus Solisten mit ganz unterschiedlichen Darbietungen gehört. Das Ergebnis ist keine stringent erzählte Geschichte, sondern eine lose Folge von Kunststücken, Choreografien und Bildern, die sich zwischen clownesker Komik, absurdem Traumgeschehen und existenziellen Sinnfragen bewegen.
Die Zeit scheint manchmal rückwärts zu laufen, als ob in der artistischen Welt die Regeln der Physik außer Kraft gesetzt wären: Lieder werden von hinten nach vorn gesungen, Leitern falsch herum bestiegen, das Oberste zuunterst gekehrt. Die Bilder und Typen wirken schön und undurchdringlich, bis in der Verfremdung wieder das Bekannte und leider auch das Klischee aufscheint. Da ist der komische Alte, der sich gegen Ende in eine bettelnde Babutschka verwandelt, der cholerische Künstler, der seine Umwelt in Angst und Schrecken versetzt, oder die verblühte Operndiva, die ihre Arien nur noch sich selbst vorsingt. Assoziationen, etwa mit Wim Wenders „Himmel über Berlin“, kommen auf. An eine dumpfe Prügelei schließt der Traum vom Aschenputtel im rosaroten Ballkleid an. Ein alter Mann wird rituell gewaschen, ehe er tot am Boden liegt und als Engel von zwei Seilartisten in die Lüfte emporgehoben wird.
Dank ihrer imposanten Kunststücke und einem abrupt gesetzten Ende schrammen Szenen wie diese haarscharf am Kitsch vorbei. Die von Florian Appl und Christian Branchereau-Sade komponierte Musik tut ihr Übriges: Moderne Tangorhythmen, rockige Streichinstrumente und elektronische Klangteppiche, die an den Soundtüftler Ekkehard Ehlers denken lassen, unterlegen weite Strecken der Produktion, verstärken mitunter das Geschehen, unterminieren es da, wo es von zu viel Pathos erdrückt zu werden droht.
Obwohl die ästhetisch-künstlerische Vielfalt lange Zeit gefangen nimmt, wird sie doch irgendwann Routine und ermüdet auf Dauer. Die Abfolge der Nummern und Bilder erscheint zum Teil repetitiv und willkürlich: Für das, was sie mehr als Zirkus sein will, inhaltliche Notwendigkeit zu vermitteln, gelingt ihr dann doch nicht. Die letzte Szene wirkt in diesem Sinne nur noch wie angehängt und hätte sich genauso gut hinter den Kulissen abspielen können. Die Erwartungen sind hoch: Man sucht einen roten Faden und vermisst die unmögliche Steigerung einer Show, die sich von Anfang an auf hohem Niveau abspielt.
ASTRID HACKEL
Gosh mit „Cirque des Hommes“, noch bis 6. Juli 2005 im Tipi, dem Zelt am Kanzleramt