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Archiv-Artikel

Ersatzteile aus dem Tiefkühlfach

Der Umgang mit menschlichem Gewebe und Körperzellen wird neu geordnet. Ein Folge wird sein, dass viele kleine Gewebebanken vor dem Aus stehen, da sie die neuen und strengeren Qualitätsanforderungen nicht mehr erfüllen können

Aus menschlichem Material entstehen damit „Arzneimittel“

VON DIRK BÖTTCHER

Tiefschlaf bei Minus 180 °C. In eisigen Trommeln lagern 60 Herzklappen. Ein Mitarbeiter der Gemeinnützigen Gesellschaft für Gewebetransplantation (DSO-G) in Hannover, eingepackt wie ein Astronaut und bewehrt mit einem überdimensionalen Kälteschutzhandschuh, öffnet den Kälteschrank. Kalter Dampf schwelt aus dem Bottich. Eine Herzklappe wurde von einem Krankenhaus angefragt. In ein paar Stunden werden Ärzte sie wie ein Stück Tiefkühlfilet im Wasserbad auftauen, um sie in das Herz eines Patienten als Ersatzteil einzubauen.

Es ließe sich auch eine Kopie aus Schweinegewebe oder ein künstliches Konstrukt verwenden. Medizinisch und ethisch spricht aber alles für menschliches Gewebe. Drei Millionen Jahre Entwicklungsarbeit der Natur schufen ein komplexes aber perfektes Gewebe, das in einem Menschenleben rund 19 Millionen Liter Blut durch den Körper pumpt.

Dem Patienten bleibt durch den Austausch des defekten Herzteils eine Transplantation erspart. Der Aufwand ist ungleich niedriger, die Verfügbarkeit von Gewebe im Vergleich zu Organen weit höher. Die Gewebetransplantation hat die Organverpflanzung quantitativ längst überholt. Stimmen die Angehörigen eines Verstorbenen zu, dann verwertet die Medizin auch das, was als solide Organspende keine Verwendung findet. Die Herzklappen anstatt eines Herzens, Lebergewebe statt einer Leber. Auch Knochen, Haut, Augenhornhäute – das Ende der Verwertungskette, gewonnen in Krematorien oder der Pathologie – bietet vielfältige und noch ungeahnte Möglichkeiten.

Der Gesetzgeber wurde von dieser Entwicklung schlicht überfahren. Eine im April nächsten Jahres wirksam werdende EU-Direktive verlangt vom deutschen Gesetzgeber rechtliche Neuordnungen, die den Gewebemarkt hierzulande vielfach neu ordnen wird.

Im Gegensatz zur soliden Organspende fehlen in Deutschland momentan einheitliche Regelungen bezüglich der Entnahme, Aufbereitung und Verteilung. Je nach Gewebeart gelten Transplantationsgesetz, Arzneimittelgesetz oder Richtlinien der Bundesärztekammer. Bei der Umsetzung dieser Vorgaben prüfen Kollegen oft Kollegen. Gewebebanken sind zudem nicht vertraglich gebunden und können bei Verstößen nur bedingt sanktioniert werden.

Selbst das strenge Arzneimittelgesetz erlaubt gern genutzte Hintertüren: Operateure, die selbst ein Gewebe entnommen haben, dürfen dieses auch ohne hohe Auflagen wieder transplantieren. Als Folge existieren an den Krankenhäusern viele kleine Gewebebanken, was eine zentrale Verteilung und Erfassung sowie einheitliche Qualitätsstandards ausschließt. Man ist somit nicht einmal in der Lage, für einige Gewebe die Verfügbarkeit abzuschätzen.

Die derzeitige Praxis führe zur „Knappheit durch Intransparenz der Verfügbarkeit“, wie es ein Teilnehmer jüngst auf einer Expertentagung der DSO-G in Hannover beschrieb. Ein weiterer Nebeneffekt ist, dass Krankenkassen kaum die wirklichen Prozesskosten einer Gewebeaufbereitung nachvollziehen können. Ebenfalls sieht man seit geraumer Zeit mit Sorge, wie altruistische Spenden im Gewebemarkt zu kommerziellen Produkten umgewandelt werden und gemeinnützige Einrichtungen mit der kommerziellen Pharmaindustrie zusammenarbeiten.

Eine neue Regelung ist unbestritten vonnöten. Die momentane Undurchsichtigkeit lässt immer wieder den Verdacht auf Unrechtmäßigkeiten aufkommen, was die schwere Entscheidung für Angehörige über Organ- oder Gewebespenden sicher nicht vereinfacht.

Als Folge der EU-Direktive werden in Deutschland ab April 2006 alle Gewebespenden unter das Arzneimittelgesetz fallen. Das Transplantationsgesetz, entwickelt für den schnellen Ablauf hocheiliger Organspenden, hält der Gesetzgeber im Falle der Gewebe nicht für ausreichend. Die Manipulation des Gewebes nach der Entnahme ist zu weit fortgeschritten. Auf den Produktlisten der Gewebebanken findet man Präparate wie „Human Knorpel, gefriergetrocknet“, „Knochenchips“ oder „Leberzelleneinheiten“. Das aus dem Lebergewebe gewonnene Präparat wird akuten Leberpatienten in die Bauchdecke injiziert. Die Zellen bahnen sich den Weg zum geschädigten Organ, nisten sich dort ein und übernehmen dessen Funktion. Aus menschlichem Material entstehen damit „Arzneimittel“, die zudem im Gegensatz zu Organen Jahre und nicht nur Stunden haltbar sind. Zieht man noch das „Tissue-Engineering“ oder die Stammzellenforschung in Betracht, scheinen verbindliche Bedingungen umso nötiger.

Direkte Konsequenzen der EU-Direktive sind bereits beschlossen. Zukünftig benötigt jede Gewebebank, die entnommenes Gewebe aufbereitet, eine Herstellungserlaubnis. Für die Weitergabe muss eine Zulassung vorliegen. Von den 20 bis 30 Gewebebanken in Deutschland besitzt derzeit nur Bad Oeynhausen eine solche Herstellungserlaubnis. Für die Gewebebank Nord der DSO-G in Hannover, eine 100-prozentige Tochter der Deutschen Stiftung Organtransplantation, läuft derzeit der Genehmigungsprozess.

Die DSO-G verfügt bereits über eine zentrale Gewebedatenbank. Die Auflagen für „Herstellungserlaubnis“ beziehungsweise „Zulassung“ sind sehr hoch. Gewebe dürfen nur noch in Reinräumen bearbeitet werden, was viele kleine Gewebebanken nicht bewältigen können. Sie stehen deshalb vor dem Ende.

Die Kosten für eine Augenhornhaut werden sich in Folge auf 3.000 Euro verdoppeln. Helmut Sengler vom Bundesministerium für Gesundheit erwartet dadurch aber keine automatische Kostenexplosion: „Das neue Gesetz wird die Qualität merklich steigern. Wenn als Folge eine Hornhaut statt fünf Jahre dann 30 Jahre hält, minimieren wir die Kosten sogar.“

Der Sorge, dass weniger Gewebebanken auch weniger Gewebe bedeuten, steht das Beispiel Frankreich entgegen. Trotz der Reduzierung von 250 auf etwa 50 Einrichtungen, ist die Gewebeverfügbarkeit nicht zurückgegangen. Die Probleme lauern wie so oft eher im Detail. Renate Höchstetter von der Deutschen Krankenhausgesellschaft fragt beispielsweise: „Wer bezahlt den Krankenhäusern die aufwändigen Zulassungsverfahren?“, und verweist darauf, dass das neue Recht eine Umsatzsteuerpflicht für die 2.400 Krankenhäuser in Deutschland auslösen könnte sowie die Rückzahlung öffentlicher Investitionszuschüsse.