: Weiß die Crowd, was gut für sie ist?
DEMOKRATIE 9 Für viele Linke ist Diskurs noch etwas Angelerntes – auch deshalb liegt der Ball im Feld der Piraten
■ Bisher erschienen: Paul Nolte, „Piraten, Wutbürger und etablierte Parteien“ (7. 4.); Micha Brumlik, „John Stuart Mill, Vordenker des Individualismus“ (17. 4.); Yanis Varoufakis, „Der Fall Griechenland: Wie gerecht ist die Finanzpolitik der EU?“ (23. 4.); Stefan Reinecke, „Aufstände in Zeiten der Postideologie“ (30. 4.); Sonja Vogel, „Kulturpolitik in Zeiten knapper Kassen“ (9. 5.); Boris Palmer: „Kopf oben, Bahnhof unten. Über den Umgang mit einem Wahlergebnis“ (23. 5.). Tania Martini: „David Graeber, neueste Rakete der Kapitalismuskritik“ (31. 5.). Moritz Ege: „Picaldi-Jeans: Wie demokratisch können Hosen sein?“ (9. 6.)
VON DIRK KNIPPHALS
Über eine Krise der Demokratie wird derzeit anhand von Beschränkungen politischer Handlungsoptionen durch die Finanzwirtschaft diskutiert oder wegen der klammheimlichen Ausdehnung exekutiver Befugnisse der Regierung. Mich hat aber, ehrlich gesagt, mindestens genauso sehr die Hinterfragung der Demokratie aus dem linksalternativen Lager empört: Auch wenn das Schlagwort „Ökodiktatur“ eine Kampfvokabel der Atomkraftwerksbetreiber war, bei der letzten Klimadebatte wurde auch von Linksalternativen zumindest damit kokettiert, dass sich in einer Diktatur die notwendigen Maßnahmen zur Lösung unserer ökologischen Probleme doch besser durchsetzen ließen.
Vielleicht ist denen die Demokratiekrise zu Kopf gestiegen, dachte ich. Und war dann erleichtert, als das alles wieder versandete. Stattdessen wurde bald anhand der Piratenpartei über neue Möglichkeiten der Partizipation nachgedacht. Genau über das Gegenteil der Diktaturenkoketterie also. In ihr sollte Partizipation ja am liebsten ganz abgeschafft werden (nur zum Besten der Menschen, versteht sich!).
So läuft das jetzt mit Debatten. Anstatt Gegenpositionen herauszuarbeiten, schubst die unsichtbare Hand der Aufmerksamkeitsproduktion den Ball lieber auf ein anderes Spielfeld hinüber; im Web geht es halt nicht so strukturiert zu wie in einem Habermas-Seminar. Wer will, kann dieses thematische Verschieben aber durchaus als Kommentar lesen. Für wie wichtig man die Klimakrise auch hielt, der vorliberale Ansatz, dass man dem ökologischen Wissen nur unbeschränkte Macht verleihen muss, um die Probleme zu lösen, erwies sich als unfruchtbar. „Als Politik“, sagt Niklas Luhmann, bei dem es viel über die Realität der Demokratie zu lernen gibt, „kann man jede Kommunikation bezeichnen, die dazu dient, kollektiv bindende Entscheidungen durch Testen und Verdichten ihrer Konsenschancen vorzubereiten.“ Das Kokettieren mit Diktaturen fiel bei diesem Test durch.
Und die Partizipation 2.0? Das wird man sehen. Aber eines muss man, glaube ich, schon jetzt als essenziellen Beitrag der Piraten zur Debatte über Politik und Demokratie ansehen: Indem sie über die Bedingungen von Partizipation nachdenken, gehen sie – im Unterschied zu manchen Linksalternativen – davon aus, dass die Menschen schon prinzipiell selbst wissen, was gut für sie ist, beziehungsweise dass sie es im Austausch untereinander schon herauskriegen werden.
Zu banal? Nein. Das ist, wenn man von den Äußerlichkeiten der Computerszene einmal absieht, der Glutkern des Piraten-Einsatzes. Und anstatt daran die altbekannten Vor- und Nachteile von direkter und repräsentativer Demokratie zu diskutieren, sollte man diese Annahme einmal als Aussage ernst nehmen.
Gerade viele linke und linksalternative Menschen tun sich mit diesem allgemeinen Kommunikationsvertrauen immer noch schwer. Umstandslos zählen sie zwar auf der einen Seite alle Protestierenden zur „Bewegung“ zusammen, imaginieren sich aber auf der anderen Seite zugleich als Mitglieder kleiner dissidentischer gallischer Dörfer inmitten eines ignoranten Mainstreams. Was sie ausblenden, ist erstens, dass Menschengruppen in der ausdifferenzierten Gesellschaft leicht zusammenfinden, sich dann aber ebenso leicht auch wieder zerstreuen. Und zweitens, dass die Mehrheit hin und her schwankt und kein zu agitierender Betonblock mehr ist.
Inzwischen kann man geradezu der derzeit ziemlich verläpperten Fundi-Realo-Differenz bei den Grünen hinterhertrauern. Sie sorgte dafür, dass die linke Debatte lebendig blieb und die Linke zur Selbstreflexion – wie liberal sind wir geworden?, welche Essentials dürfen wir nicht aufgeben? – gezwungen war. Neuerdings hat dagegen die Tatsache, dass nun auch die FAZ neoliberale Lehren hinterfragt, einige linke Intellektuelle erfolgsselig gemacht. Und man kann auf den Gedanken kommen, dass das nicht zur Selbstreflexion beiträgt, wenn man sieht, mit welcher Selbstsicherheit wieder tradierte Feindbilder (Banken) und einfache Rezepte für endgültige Lösungen (Systemwandel) präsentiert werden, und das bei so komplexen Problemlagen wie der Finanzkrise.
Das ist jetzt auch wieder zu einfach, ich weiß. Aber gerade auf der Linken ist die Versuchung immer da, sich vordiskursiv im Recht zu wähnen und sich halt nur nicht gegen das „System“ durchsetzen zu können. Man gibt ihr derzeit allzu leicht nach.
Allen vordergründigen Erfolgserlebnissen der Linken zum Trotz: auch deshalb liegt der Ball im Feld der Piraten. Ihr Erfolg zeigt eben auch an, dass gerade die Linke ihre diskursiven Hausaufgaben versäumt hat. Als das letzte Mal die Strukturen der Öffentlichkeit entscheidend erweitert wurden – in den neunziger Jahren bei der flächendeckenden Einführung der Talkshows war das –, beschrieben gerade linke Intellektuelle das vor allem als Verfalls- und Verdummungsprozess. Und eben keineswegs zumindest als Chance, nicht nur in Feuilletons und linken Zirkeln gesellschaftliche Grundfragen zu diskutieren und damit immer auch ein bisschen zu hinterfragen; testen und verdichten eben. Stellenweise war Verachtung, sogar ein Sichgruseln vor der Masse der Bevölkerung spürbar – ganz raus ist es bis heute nicht.
Mit Folgen. Für viele Linke ist Diskurs weiterhin etwas Angelerntes, etwas, was man nun zwar machen muss, aber nur notgedrungen, um über das, was man eigentlich eh schon weiß, Konsens herzustellen. Dabei übersehen sie den weiterführenden Punkt: Nur im Diskurs bekommt man eben auch die aktuellen Dissense heraus, nur er ist offen für die Probleme von morgen. Demokratietheoretisch hat das weitreichende Folgen. Es geht in unserer entwickelten Gesellschaft – anders als beim Arabischen Frühling – eben nicht mehr nur darum, den Willen des Volkes gegen ein korruptes Regime durchzusetzen. Sondern darum, immer wieder aufs Neue Zukunftsoffenheit zu gewährleisten. Als Demokratie garantiert sich die Politik das Unbekanntsein ihrer Zukunft „und damit die Voraussetzung dafür, dass politische Optionen nicht errechnet werden können, sondern als Entscheidungen getroffen werden müssen“ (wieder Luhmann). Manchmal habe ich den Eindruck, manche Linke glauben immer noch, sie könnten Politik errechnen.
Und wie entschieden der allgemeine Anstieg des Bildungsniveaus und die neuen technischen Gegebenheiten die Möglichkeiten zum Diskurs erweitert haben, übersehen sie sowieso.
Dagegen wird von den Piraten die Mehrheit statt als homogene Masse als disparate Crowd gedacht. Als jemand, der manchmal nun sogar Teil dieser Mehrheit ist, manchmal weiterhin auch nicht, ist mir das schon mal viel sympathischer. Und ich glaube, dass eine neue Fundi-Realo-Differenz zwischen manchen Linken und manchen Piraten interessant geworden wäre. Aber das hat nicht geklappt, zumindest bei den Grünen nicht.
Gesellschaftlich dagegen gibt es bereits Ansätze dazu. So wie neulich, als die Proteste rund um Stuttgart 21 in einer Podiumsdiskussion aufgearbeitet wurden und ein Student empört zu einem etwas älteren Herren sagte: „Aber Demokratie heißt doch nicht automatisch, dass passiert, was Sie wollen!“
Beide hatten gegen den Tiefbahnhof demonstriert, aber aus strukturell unterschiedlichen Gründen. Der ältere Herr hatte Gutachten über Auslastungsspitzen und Grundwasserstände gelesen und meinte nun, sie verböten es geradezu, den Tiefbahnhof zu bauen, sonst würde, seine Worte, „die Demokratie versagen“. Der Student dagegen hatte gegen den unzeitgemäßen Politikstil bei der Bahnhofsplanung demonstriert. Während der ältere Herr also als Fundi des Nichtdiskurses meinte, die Debatte sei von vornherein entschieden, wollte der Student als diskursiver Realo eine ergebnisoffene Debatte über solche Entscheidungen überhaupt erst ermöglichen – auch gegen selbsternannte Experten jeglicher Couleur.
Das ist, glaube ich, der Hauptfehler der Diktaturenkoketterie gewesen: An die interessanten Konflikte, wenn beide Seiten aus guten Gründen meinen, im Recht zu sein, kommen sie gar nicht heran. Solche Konflikte gibt es mehr, als manche Linke denken. Und nur eine Demokratie ist komplex genug dafür, dass sich bei ihnen beide Seiten gegenseitig testen können.