Goethe war gut

KLASSIK Das Gorki Theater nimmt Goethes „Wahlverwandtschaften“-Witze nicht ernst

Goethe zeigt Respekt vor der Liebe, verhöhnt aber den Willen zur Romantik, der die Liebenden beherrscht

VON JÖRG SUNDERMEIER

Barbara Weber ist mit Mitte dreißig noch recht jung, dennoch ist sie mit reichlich Vorschusslorbeeren ausgestattet. Aus der Off-Szene stammend, hat sich die Regisseurin schnell etablieren können, inszenierte an wohlbekannten Häusern und ist nun, gemeinsam mit Rafael Sanchez, zur Leiterin des Zürcher Theaters am Neumarkt aufgestiegen.

Angesichts dessen verwundert es nicht, dass die Premiere ihrer „Wahlverwandtschaften“, die am Samstag im Maxim Gorki Theater stattfand, sehr gut besucht war. Allerdings hatten sich nach der Pause die Reihen merklich gelichtet. Auch das war nicht erstaunlich, wenngleich auch unhöflich den Schauspielern gegenüber. Denn Anja Schneider und Wilhelm Eilers, die Goethes Charlotte und Eduard spielen, können ja nichts dafür. Sie nutzen die Freiheit, die ihnen Weber lässt, und albern sich aus. Auch Britta Hammelstein, Jürgen Lingmann und Johann Jürgens ist viel Platz für Overacting gegeben – Schauspieler körpern gern wild herum.

Das Schöne schaffen

Die „Wahlverwandtschaften“-Fassung, die Weber gemeinsam mit dem Dramaturgen Ludwig Haugk entwickelte, nimmt Goethes Roman einerseits nicht ernst, andererseits weiß sie ihm nichts entgegenzusetzen. Haugk, so steht im Programmheft, sieht den Weimarer in seinem Roman mit der Aufklärung ringen: „Dabei liegt das eigentliche Dilemma nicht im Verlust der Werte, sondern im Vorgang des Verlierens der Beherrschung. Das Problem ist nicht die Krise selbst, sondern die Rettungsversuche, die Bemühungen, zu einem ‚alten Zustand‘ zurückzukehren.“

Dies Goethe zu unterstellen ist Blödsinn. Im Roman geht es um das gealterte Paar Charlotte und Eduard, das auf einem Landsitz seine nach Jahren wiedererlangte Liebe lebt und sich im Gartenbau verwirklicht. Das Schöne wird geschaffen. Doch die Natur obsiegt, als Besuch kommt – „der Hauptmann“ und Ottilie, in die sich Ehefrau und Ehemann verlieben. Der Wildwuchs des Herzens bricht sich Bahn, das Ehepaar findet zwar zu einer Liebesnacht zusammen, doch „sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche: Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander.“

Witze über die Romantik

Infolge dieser Nacht wird Charlotte schwanger. Die Liebeshändel bringen Unglücke hervor. Die Männer fliehen den Landsitz, Eduard zieht in den Krieg. Dort aber überwindet er seine Liebe nicht: „Dabei bleibt es aber nicht; denn wie kann ich fern von ihr glücklich sein! Nun arbeitet meine Phantasie durch, was Ottilie tun sollte, sich mir zu nähern. Ich schreibe süße, zutrauliche Briefe in ihrem Namen an mich, ich antworte ihr und verwahre die Blätter zusammen.“ Dergleichen lustiger Unfug fehlt in Webers Inszenierung, Goethes Witze über die Romantik sind getilgt. Am Ende von Roman und Stückfassung kommen Eduard und Ottilie zusammen, doch Charlottes Kind stirbt infolge einer Ungeschicklichkeit Ottilies. Das wiederum lässt diese, die sich zuvor in romantischen Büchern verlor, klar sehen, sie verweigert sich von nun an und stirbt. Eduard stirbt auch, Charlotte lässt beide nebeneinander beerdigen: „Welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.“

Goethe zeigt Respekt vor der Liebe, verhöhnt aber den Willen zur Romantik, der die Liebenden mehr beherrscht als ihre Liebe. Goethe zeigt, wohin, um es mit Haugk zu sagen, der „Vorgang des Verlierens der Beherrschung“ führt. Das kann man kritisieren – ignorieren kann man es nicht. Weber aber ist alles suspekt, sie mag nicht den Gartenbau, die Landidylle, das Paarleben. Da sie jedoch diesen Text machen muss (wer zwingt sie?), lässt sie die Schauspieler alles veralbern; der gepflegte Spaziergang wird zum Gehopse, das gemeinsame Musizieren wird zum Individualgezappel, das ernste Gespräch zum neurotischen Geschrei. Früher war alles, waren alle doof – soll das die Hauptaussage sein? Wenn man Bilder stürmen will, warum will man sich mit einem Klassiker schmücken? Wenn man Paarleben scheiße findet, warum es dann so lange diskutieren? Wenn Goethe blöd, warum Goethe? Oder geht es gar um den Umbau von Goethe, gar um die Befreiung Goethes von Goethe? Wenn man es mit diesem „perfekt konstruierten“ (Haugk) Buch aufnimmt, sollte man sich etwas mehr Mühe geben.

■ Weitere Aufführungen: 17. 9., 2. 10., 23. 10.