Christa Pfafferott
Zwischen Menschen
: In einer Blase voller Erinnerungen

Ich treffe einen Freund in einer Stadt, in der ich schon lange nicht mehr war. In der ich während meiner Studienzeit gewohnt habe. Wir haben ein paar Stunden zum Mittagessen. Auf dem Weg zum Restaurant laufen wir an meinem alten Studierendenwohnheim vorbei.

Mein Bekannter spricht gerade, ich hebe den Kopf und schaue hinauf zu den Fenstern des Wohnheims. Ich sehe die drei Fenster, hinter denen ich geschlafen und gelebt habe. Drei Fenster, die früher mein Ausblick waren. Ja, genau, es waren drei Fenster, die zu meinem Zimmer gehörten. Ich erinnere mich wieder, wie froh ich damals gewesen war, ein Zimmer mit drei Fenstern zu haben.

Auf den steinernen Simsen vor den Fenstern stehen mehrere Orangensaft-Packungen. Die Person, die jetzt in dem Zimmer wohnt, muss sie dorthin gestellt haben.

Mein Bekannter spricht weiter. Wir könnten jetzt einfach unbemerkt an dem Wohnheim vorbeigehen. Es könnte ein Haus wie alle anderen bleiben, das dort in dieser Straße steht.

Doch ich kann es nicht so stehen lassen. Ich möchte es wieder in meins verwandeln.

„Schau mal“, sage ich zu dem Freund, bevor wir am Wohnheim vorbeigelaufen sind. „Da oben habe ich früher einmal gewohnt. Da, bei den Fenstern, wo die Orangensäfte stehen.“

Er sieht hinauf und lacht: „Sind das noch deine Säfte? Stehen die da jetzt seit damals?“

Ich lache auch. Aber etwas von seiner Frage stimmt auf eine abstrakte Weise: Ist die Zeit stehen geblieben seit damals für mich an diesem Ort? Ist sie weitergelaufen?

Wir betreten um die Ecke ein vietnamesisches Restaurant, in dem ich früher mit einer befreundeten Kommilitonin oft gegessen habe. Es gab ein Gericht mit einer bestimmten Nummer, dass unser Lieblingsessen gewesen war. Wir hatten beim Bestellen immer nur die eine Nummer genannt, jedes Mal dieselbe. Manchmal hatten wir uns Nachrichten geschrieben: „Die xx essen?“ Es war dann klar, welchen Geschmack wir spüren wollten, in welche Stimmung wir tauchen wollten.

Als wir das Restaurant betreten, ist es völlig leer. Kein einziger Mensch ist da. Wir sind unsicher, ob es nicht doch geschlossen hat. Vor mir steht plötzlich die Kellnerin von damals, nur ein bisschen gealtert: „Dürfen wir hier essen“, frage ich. „Ja“, sagt sie. „Wir warten gerade auf euch.“

Wir setzen uns an einen der leeren Tische: „Es ist komisch, heute kommt sonst niemand“, sagt die Kellnerin. „Seit Corona ist es viel weniger geworden.“

„Ich war früher oft da“, sage ich. „Da war es immer voll.“ Sie schaut mich an.

„Ah, jetzt erinnere ich mich an dich, wo du den Mundschutz abgenommen hast. Du warst immer so am Nachmittag da.“

Waren wir nachmittags da? Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich wirklich an mich erinnert, oder ob sie das sagt, um mir einen Gefallen zu tun, um eine Verbindung aufzubauen. Es hat auf einmal etwas Surreales, in diesem leeren Restaurant zu sitzen.

Ich suche in der Speisekarte nach dem Gericht, das wir immer gegessen haben. Ich finde es nicht, sie müssen die Reihenfolge der Karte geändert haben. Ich beschreibe der Kellnerin das Gericht, frage nach der Nummer: „Ah, das hier“, sie zeigt auf die Karte.

Ich bestelle das Essen. Als es kommt, schmecke ich das Zitronengras, die Sauce und Gewürze.

„Das haben wir damals immer gegessen“, sage ich. „Und, schmeckt es immer noch so wie früher“, fragt mein Bekannter.

Ich überlege. „Nein“, sage ich dann. Das Gericht schmeckt wie ein Zitat. Ein Echo. Die Kopie einer Idee. Es ist nicht mehr das Essen von damals. Das Essen war das Essen einer bestimmten Zeit. Eine Zeit, die für mich an diesem Ort stehen geblieben ist, als ich wegzog.

Als mein Bekannter und ich uns verabschieden, laufe ich noch durch die Stadt, komme wieder an Orte, die ich mit Erlebnissen und Gefühlen verbinde. Ich tauche in mein Leben hinab, trete in einen Erinnerungsraum, der mich wie eine Blase umschließt. Und mit unüberwindbarer Deutlichkeit wird mir bewusst: Alles hat seine Zeit. Es ist nicht möglich sie hinüberzuretten. Die Erinnerung ist immer nur eine Idee. Alles, was zählt, ist jetzt, der Moment.