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Archiv-Artikel

„Schule kommt auch ohne Sitzenbleiben aus“

Die Bochumer Uni-Professorin Gabriele Behlenberg spricht mit der taz nrw über die Sinnlosigkeit von Klassen-Wiederholungen und über die Selektion von SchülerInnen, die sich unter der neuen Regierung verstärken wird

taz: Frau Bellenberg, etwa 25.000 SchülerInnen bleiben in NRW jedes Jahr sitzen. Werden die Wiederholer im nächsten Jahr zu den Klassenbesten gehören?

Gabriele Bellenberg: Nach all dem was wir wissen, gehört das Sitzenbleiben nicht zu den leistungsfördernden Maßnahmen. Es gibt zwar einen Erholungseffekt von ein bis zwei Jahren, spätestens nach drei Jahren hängen sie aber wieder dem Klassendurchschnitt hinterher.

HauptschülerInnen wiederholen drei bis vier mal mehr die Klasse als GymnasiastInnen. Wie erklären Sie sich das?

Das ist so nicht ganz richtig. Zu den Klassenwiederholern auf der Hauptschule werden auch diejenigen gezählt, die von der Realschule oder dem Gymnasium abgegangen sind, also nicht auf der Hauptschule wiederholt haben. Ob das Instrument der Klassenwiederholung von den Lehrern eingesetzt wird oder nicht, hängt weniger von der Schulform, sondern mehr von deren Einstellung ab.

Hängt eine Versetzung also eher von den Lehrern als von den Leistungen ab?

Wenn LehrerInnen daran glauben, dass Leistung vor allem von der individuellen Begabung abhängt, lassen sie vermehrt ihre SchülerInnen wiederholen. Das ist ja auch ganz praktisch, sie entledigen sich der Schwachen und glauben damit, einen einfacheren Unterricht führen zu können. LehrerInnen, die das soziale Umfeld der SchülerInnen in ihre Entscheidung mit einbeziehen und ihren Unterricht und auch das Schulsystem in Frage stellen, entscheiden sich viel seltener für Klassenwiederholungen.

Die rot-grüne Landesregierung wollte als Alternative zum Sitzenbleiben die „Versetzung auf Probe“ einführen.

Von diesem Modell halte ich nichts. Kinder, die zum Beispiel wegen zwei Fünfen im Zeugnis wiederholen müssten, dürfen erst einmal weitermachen. Nach drei Monanten in der neuen Klasse wird ihre Versetzung jedoch wieder in Frage gestellt. Bei diesem Modell haben wieder die LehrerInnen die Entscheidungsmacht, das ist nicht konsequent.

Was wäre denn konsequent?

Es spräche einiges dafür, die Klassenwiederholungen ganz abzuschaffen. Dafür wäre natürlich ein integratives Schulsystem, wie es in Skandinavien und Finnland gibt, eine bessere Voraussetzung als unser viergliedriges System. In einer solchen Schule würden SchülerInnen gefördert statt selektiert.

Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung hat 2004 eine Studie zu dem Thema veröffentlicht. Danach haben Sitzenbleiber bessere Chancen auf einen höheren Schulabschluss haben als strebsame Nichtsitzenbleiber.

Es stimmt zwar, das es eine Minderheit gibt, die auf dem Gymnasium sitzen geblieben ist und das Abitur schafft. Der größere Teil, der dann in der Haupt- oder Realschulen landet, wurde in der Studie aber nicht berücksichtigt. Wir kommen bei unseren Forschungen zu dem Schluss, dass das Sitzenbleiben in der Grundschule in den meisten Fällen den Zugang zum Abitur verwehrt. Davon sind besonders Migrantenkinder betroffen.

Was wird die neue Regierung zum Thema Sitzenbleiben unternehmen?

Im Koalitionsvertrag hat sie sich nicht dazu geäußert. Aber das ist auch kein Wunder: Die Abschaffung des Sitzenbleibens passt nicht in das angekündigte „begabungsgerechte Schulsystem“. Ein Unwort übrigens, das von statischen Begabungen ausgeht und verneint, dass Schule Kinder „begabt“ oder ihre Talente ungenutzt lässt.

Müssen also Kinder in NRW Jahr für Jahr um ihre Versetzung bangen?

Wir werden in Modellprojekten zeigen, dass Schule auch ohne Sitzenbleiben auskommen kann. Wir werden unter anderem eine selbständige Realschule in Herkenrath bei Köln wissenschaftlich begleiten, die auf Klassenwiederholungen verzichten will.

Interview: Natalie Wiesmann